Das schwere Tor fiel hinter ihm zu, doch er hörte bald, wie sein Verfolger es wieder aufstieß. Er rannte wie von Sinnen, denn hinter sich hörte er immer die federleichten, schnellen Schritte des Monstrums, und als er einen schnellen Blick zurückwarf, sah er, daß das Ungeheuer wie ein Tiger an seinen Fersen klebte, ein Schlag seines sehnigen Armes hätte genügt, den verzweifelten Mann zu Fall zu bringen. Gott sei Dank, die Tür war nur angelehnt, im Flur brannte Licht. Direkt an seinem Ohr hörte er ein kehliges Gurgeln. Mit letzter Anstrengung stürzte er durch die Tür, knallte sie ins Schloß und versiegelte sie hastig: Gerettet. Halb betäubt fiel er in den nächsten Sessel.
»Mein Gott, Smith, was ist passiert?« Peterson erschien in der Tür seiner Bibliothek und lief auf ihn zu.
»Ich brauche einen Brandy, bitte.«
Peterson verschwand für einen Augenblick und kam mit einer Karaffe und einem Glas zurück. Smith trank eine anständige Füllung in einem Zug leer.
»Anscheinend hast du wirklich einen gebraucht. Mann, du bist ja weiß wie die Wand, was ist denn los?«
Smith stellte sein Glas ab, stand auf und holte tief Luft. »Jetzt geht es mir schon besser«, sagte er. »So bin ich noch nie vor etwas weggelaufen. Wenn Sie erlauben, möchte ich heute nacht hier schlafen. Ich glaube nicht, daß ich mich jemals wieder auf diese Straße trauen werde, höchstens bei Tageslicht. Ich weiß, es hört sich feige an, aber ich kann einfach nicht mehr.«
Peterson blickte seinem Gast fragend in die Augen.
»Natürlich kannst du hier schlafen, wenn du es wünschst. Ich werde Mrs. Burney Bescheid sagen, sie wird das Gästebett fertigmachen. Doch sag mir endlich, was ist passiert?«
»Kommen Sie nur mit zum Fenster, von dem man den Eingang sehen kann. Ich möchte, daß Sie es sehen.«
Sie gingen ins Obergeschoß, von wo sie den Zugang zum Haus überblicken konnten. Der Weg und die Felder ringsum lagen friedlich im Mondlicht.
»Wirklich, Smith, ich weiß genau, daß du kein Trinker bist, sonst würde ich denken, die Weingeister sind hinter dir her. Was in aller Welt kann dich nur so erschrecken?«
»Ich erzähle es Ihnen sofort. Doch wo kann es nur sein? Ah, da, sehen Sie, in der Kurve direkt hinter dem Tor!«
»Ja, ja, ich sehe ja; du brauchst mir nicht gleich den Arm auszureißen. Da geht ein Mann entlang; er ist offenbar sehr dünn und groß, sehr sehr groß. Doch was soll mit ihm sein? Was ist mit dir? Du zitterst ja immer noch wie Espenlaub.«
»Um ein Haar hätte mich der Teufel erwischt, das ist alles. Aber gehen wir doch besser in die Bibliothek, dort kann ich Ihnen alles von Anfang an erzählen.«
In dem warmen Zimmer saß er also bei einem Glas Wein seinem vertrauten Freund gegenüber und beruhigte sich allmählich. Alles, was er seit dem Abend, als er Bellingham bewußtlos vor dem Mumiensarg fand, bis zu dem Schrecken, der ihn vor wenigen Minuten ereilt hatte, die ganze Kette der mehr oder weniger bedeutenden Ereignisse, die ihn seiner Sache so sicher machten, trug er dem geduldigen Zuhörer nach und nach vor.
»Das ist die ganze, schreckliche Wahrheit«, schloß er nach einer Stunde, »so ungeheuerlich und unglaublich sie auch klingen mag, es ist die Wahrheit.«
Für einen langen Augenblick verharrte Dr. Plumptree Peterson in Schweigen. Sein Gesicht drückte ungläubige Verwirrung aus.
»So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört!« sagte er schließlich. »Du hast mir die Fakten vorgetragen, nun sag mir, welche Schlüsse du aus dem Ganzen ziehst.«
»Sie können Ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen.«
»Ich möchte aber gern hören, was du davon hältst. Du hast sicher schon viel darüber nachgedacht, ich aber nicht.«
»Gut, für mich ist die Sache in den wichtigsten Punkten, wenn auch nicht in allen Details, sonnenklar. Dieser Bellingham ist im Laufe seiner orientalistischen Studien in den Besitz eines teuflischen Geheimnisses gelangt, das ihm erlaubt, Mumien - vielleicht auch nur eine bestimmte Mumie -zeitweise zum Leben zu erwecken. An dem Abend, als er in Ohnmacht fiel, hat er die Methode ausprobiert. Als es funktionierte und die widerliche Gestalt sich bewegte, muß er selbst so schockiert gewesen sein, daß seine Nerven versagten, obwohl er darauf vorbereitet war. Das erklärt seine ersten Worte, als er sich, kaum war er aufgewacht, einen Idioten nannte. Nun gut, das passierte ihm kein zweites Mal, danach konnte er die schauerliche Prozedur ausführen, ohne in Ohnmacht zu fallen. Das Leben, das er der Kreatur einhauchen konnte, war offensichtlich nicht von Dauer, denn die meiste Zeit war die Mumie so tot wie dieser Tisch und stand regungslos in ihrer Kiste. Wie ich vermute, kann er sie aber jederzeit wieder aufwecken, und von dort bis zu der Idee, sie als sein Werkzeug zu benutzen, war es nicht mehr weit, denn das Ungeheuer ist intelligent und stark wie ein Bär. Aus irgendeinem Grund zog er Lee ins Vertrauen, doch der wollte als rechtschaffener Christ nichts mit dieser Sache zu tun haben. Schließlich bekamen sie Streit, und Lee drohte, seine Schwester über Bellinghams wahren Charakter aufzuklären. Das wollte Bellingham unter allen Umständen verhindern, und fast hätte er es auch geschafft, indem er sein Monstrum auf Lee hetzte. Er wußte, daß es ihm gehorchte, denn vorher hatte er es schon auf Norton losgelassen, mit dem er noch ein Hühnchen zu rupfen hatte. Hätte das Ungeheuer nicht letztlich versagt, so hätte er schon zwei Morde auf dem Gewissen. Als ich ihn schließlich zur Rede gestellt hatte, war es natürlich sein dringendstes Anliegen, mich aus dem Weg zu räumen, bevor ich etwas von dem ausplaudern konnte, was ich wußte. Als ich heute abend ausging, bekam er auch seine Chance, denn er kennt meine Gewohnheiten und wußte, wohin ich wollte. Ich bin dem Verhängnis nur haarscharf entgangen, hätte ich nicht solch ein unglaubliches Glück gehabt, dann hätten Sie mich morgen früh tot vor Ihrer Tür gefunden. Sie wissen, ich bin für gewöhnlich kein Angsthase, nie hätte ich gedacht, daß man mich so zu Tode erschrecken kann wie heute abend.«
»Mein lieber Junge, du nimmst die Sache zu ernst«, sagte sein väterlicher Freund. »Offenbar hast du soviel gearbeitet, daß deine Nerven dir einen Streich spielen. Es ist doch unmöglich; wie könnte diese Satansgestalt selbst nachts mitten durch Oxford spazieren, ohne gesehen zu werden?«
»Man hat sie gesehen. Die ganze Stadt redet von einem ausgebrochenen Affen, für den man die Mumie wohl hält.«
»Gut, mein Junge, die Kette von Ereignissen ist wirklich frappierend, doch trotzdem mußt du zugeben, daß es für jedes einzelne Glied auch eine natürliche Erklärung geben kann.«
»Ach was, ich weiß doch, was ich heute abend erlebt habe!«
»Wirklich? - Deine Nerven hängen doch in Fetzen, in deinem Kopf dreht sich alles nur noch um deine absonderliche Theorie. War es nicht nur ein dürrer, halb verhungerter Landstreicher, der hinter dir her war und der sich ermutigt fühlte, dich zu verfolgen, als er sah, daß du vor ihm davonliefst? - Und den Rest, die glühenden Augen und den Tigergang, wird deine Angst und deine Phantasie dazugetan haben.«
»Nein und nochmals nein; Sie kennen mich doch, Peterson.«
»Und weiter, die Sache mit dem leeren Mumiensarg, dessen Bewohner nach wenigen Minuten plötzlich wieder da war. Du sagtest, die Lampe in dem Zimmer sei halb abgedreht gewesen, und du hattest keinen Grund, genau hinzusehen. Es wäre also ohne weiteres möglich, daß du die Mumie beim ersten Mal einfach im Halbdunkel nicht gesehen hast.«
»Nein, nein, nein; das ist ausgeschlossen.«
»Und außerdem: Lee kann gestürzt sein, Norton das Opfer eines ganz gewöhnlichen Halsabschneiders gewesen sein. Die Anschuldigungen, die du gegen Bellingham vorbringst, sind einfach zu phantastisch; jeder Polizist, dem du diese Geschichte auftischen würdest, würde dich auslachen.«