Mit der Absicht, ihn irgendwie anzusprechen, schlich er sich an den Wärter heran. Die Kunst, ein Gespräch zu beginnen, lag ihm nicht besonders, er hatte stets Schwierigkeiten, den goldenen Mittelweg zwischen Überheblichkeit und Unterwürfigkeit im Ton zu finden. Jetzt konnte er das Profil des Mannes sehen, der immer noch in seine Arbeit vertieft war und ihn nicht bemerkte. Sofort hatte Vansittart Smith den Eindruck, daß etwas Unmenschliches an diesem Mann war, seine Haut erschien ihm ganz und gar unnatürlich, wie sie sich straff und glänzend wie gegerbtes Leder über Stirn und Wangenknochen spannte, ohne daß er Poren oder den geringsten Schweißtropfen darauf erkennen konnte. Statt dessen war das Gesicht vom Haaransatz bis zum Kinn von Millionen winziger Fältchen zerfurcht, ganz anders als die Spuren des Alters, die man an jedem Menschen feststellen kann.
»Ou est la collection de Memphis?« fragte der Forscher, und man konnte ihm anmerken, daß er lediglich peinlich darum bemüht war, ein Gespräch anzufangen.
»C'est la«, antwortete der Mann abweisend und deutete zum anderen Ende der Halle.
»Vous etes un Egyptien, n'est-ce pas?« fragte der Engländer.
Der Wärter schaute auf und wandte ihm seine seltsamen, dunklen Augen zu. Es waren glasige, verschleiert schimmernde Augen, wie Smith sie noch nie an einem Menschen gesehen hatte. In ihrer unergründlichen Tiefe schien sich etwas zu sammeln, ein starkes Gefühl, das sich immer mehr verschärfte und konzentrierte, bis es sich in einem offenen Blick voller Angst und Haß entlud.
»Non, monsieur; je suis fran9ais.« Abrupt drehte sich der Mann um und beugte sich wieder über seine Putzarbeit. Einen Moment lang blieb der Forscher verdutzt stehen, dann begab er sich zu einem Stuhl in einer versteckten Ecke hinter einer der Türen und fuhr fort, Notizen über seine Erkenntnisse aus den Papyrusschriften in sein Tagebuch einzutragen. Doch es gelang ihm einfach nicht, seine Gedanken zusammenzuhalten, immer wieder schweiften sie ab zu jenem rätselhaften Museumsdiener mit dem Sphinxgesicht und der Pergamenthaut.
»Wo habe ich schon einmal solche Augen gesehen?« murmelte Vansittart Smith in sich hinein. »Sie haben etwas Saurierhaftes, etwas Reptilisches an sich. Sie scheinen wie Schlangen eine Membrane nictitans zu haben, das würde das seltsame Schimmern erklären. Doch da war noch mehr, war es nicht Kraft, Weisheit und ja, Müdigkeit, bleierne Müdigkeit und unendliche Verzweiflung, die aus ihnen sprach? -Vielleicht ist alles nur Einbildung, doch so etwas habe ich noch nie gesehen, noch nie so deutlich. Bei Gott, ich muß ihn mir noch einmal ansehen!« Er sprang auf und jagte durch die ägyptische Sammlung, doch der Mann, den er suchte, war verschwunden.
Er setzte sich wieder in seine Ecke und arbeitete an seinen Notizen weiter. Er hatte in den Papyri gefunden, was er gesucht hatte, und mußte es nur noch aufschreiben, solange es noch frisch in seinem Gedächtnis war. Eine Zeitlang jagte sein Stift nur so über die Seiten, doch bald wurde seine Schrift immer größer und unleserlicher, schließlich fiel der Stift zu Boden, der Kopf des Forschers wurde schwerer und schwerer, bis er ihn nicht mehr aufrechthalten konnte. Erschöpft von der Reise schlief er so fest auf seinem Stuhl hinter der Tür, daß weder das Schlüsselrasseln der Wärter, noch das Fußgetrappel der Touristen, noch nicht einmal die laute Schelle, die die Schließzeit ankündigte, ihn wecken konnte.
Aus Dämmerung wurde Finsternis, das Gewimmel der Rue de Rivoli erstarb, die fernen Glocken von Notre Dame schlugen Mitternacht, und immer noch saß die einsame Figur schlafend zwischen den Schätzen des alten Ägypten. Erst kurz vor ein Uhr morgens kam Vansittart Smith schnaufend und nach Luft schnappend zu sich. Zuerst dachte er, er sei zu Hause an seinem Schreibtisch eingenickt, doch als er den Mond durch die hohen Fenster scheinen sah und sein Blick auf die langen Reihen von Mumien und auf Hochglanz polierten Vitrinen fiel, wußte er genau, wo er war und wie er dorthin gekommen war. Er war nicht ängstlich, im Gegenteil, er liebte geradezu solche Situationen, die sonst nur in phantastischen Erzählungen vorkommen. Er reckte seine steifen Glieder und kicherte amüsiert, als er auf seiner Uhr sah, wie spät es war. Dieses Erlebnis würde eine treffliche Anekdote abgeben, die er als kleine Auflockerung in seinen nächsten wissenschaftlichen Artikel einbringen konnte. Er fror ein wenig, doch ansonsten fühlte er sich wach und ausgeruht. Kein Wunder, daß die Wachen ihn übersehen hatten, denn er saß direkt im Schatten einer großen Flügeltür. Die Stille war eindrucksvoll, kein Laut war zu hören, weder draußen noch drinnen. Er war allein mit den toten Überresten einer vergangenen Zivilisation, und all das in der lärmenden Betriebsamkeit des neunzehnten Jahrhunderts. Alles Strandgut, was der Zeitenstrom von versunkenen Imperien angespült hatte, Relikte vom mächtigen Theben, vom königlichen Luxor, aus den berühmten Tempeln von Heliopolis und aus Hunderten versteckter Grüfte kündeten von ehemaliger Pracht und Weisheit und versetzten den jungen Forscher in eine andächtige, nachdenkliche Stimmung. Er fühlte sich klein und unbedeutend wie noch nie zuvor, als er durch die vom Mond silbern beleuchteten Zimmerfluchten des Museums spähte. Doch er war nicht mehr allein. In einer entfernten Ecke schimmerte gelbes Lampenlicht.
Das Licht näherte sich langsam, verharrte von Zeit zu Zeit und kam dann schnell auf ihn zu. Kein Laut war zu hören von dem, der die Lampe trug, kein Schritt, kein Atmen. Der Engländer dachte sofort an Einbrecher und zog sich tiefer in seine Ecke zurück. Bald war das Licht in der übernächsten Kammer, jetzt im Nachbarraum, und immer noch war kein Laut zu vernehmen. Nun sah er das Gesicht, das hinter der Lampe frei im Raum zu schweben schien, und sein Herz krampfte sich zusammen. Es gab keinen Zweifel, die metallisch funkelnden Augen, die pergamentene Haut: Es war der Wärter, mit dem er am Nachmittag gesprochen hatte.
Vansittart Smith' erster Gedanke war, sich zu zeigen und ihn anzusprechen. Nach einer kurzen Erklärung würde der Wärter ihn ohne Zweifel zu einem Seitenausgang führen und ihn hinauslassen. Doch als der Mann die Halle betrat, war in seinen Bewegungen etwas so Geheimnisvolles, Verstohlenes, daß er sich eines anderen besann. Es war ganz offensichtlich, daß dies kein normaler, dienstlicher Rundgang war. Der Bursche schlich auf Kreppsohlen herum und blickte ständig hektisch nach links und rechts, während sein keuchender Atem die Lampe flackern ließ. Vansittart Smith zog sich lautlos in seine Ecke zurück, um ihn heimlich zu beobachten, denn er war sicher, daß der Kerl irgend etwas vorhatte, bei dem er bestimmt nicht gesehen werden wollte.
Der Wärter wußte anscheinend genau, was er wollte. Er ging zielstrebig auf eine der großen Vitrinen zu, zog einen Schlüssel aus seiner Tasche und schloß sie auf. Vom obersten Regal holte er eine der Mumien und legte sie vorsichtig, geradezu liebevoll auf den Boden; die Lampe stellte er daneben, dann setzte er sich in orientalischer Weise auf den Boden und begann mit langen, zitternden Fingern, die Leichentücher und Bandagen aufzuwickeln, in denen die Mumie verpackt war. Eine Lage Leintücher nach der anderen sowie getrocknete Rinden und Blätter fielen auf den Marmorboden, und ein scharfer, aromatischer Duft erfüllte den Raum.
John Vansittart Smith wußte, daß diese Mumie noch nie enthüllt worden war. Die Prozedur faszinierte ihn, er schwitzte vor Neugier, und sein Vogelkopf schob sich immer weiter hinter der Tür hervor. Als es schließlich soweit war und der viertausend Jahre alte Schädel offenlag, konnte er nicht mehr an sich halten, ein verzückter Schrei entrang sich seiner Kehle. Er sah, wie sich zuerst ein dichter Strom glänzender, schwarzer Haare über die Arme des geheimnisvollen Wärters ergoß, dann die zierliche, weiße Stirn mit wunderbar geschwungenen Augenbrauen, schließlich zwei große, dunkel umrandete Augen, die fein geschnittene Nase und ein süßer, voller, sinnlicher Mund über einem lieblich gerundeten Kinn. Das Gesicht war von außerordentlicher Schönheit; das einzige Makel war nur ein formloser, kaffeebrauner Fleck auf der Mitte ihrer Stirn. Jedenfalls hatte der Einbalsamierer hier ein Kunststück vollbracht. Smith' Augen wurden immer größer, und seine Kehle wollte sich vor Entzücken zusammenschnüren.