Zwölf Uhr schlug die ferne Kirchturmuhr, dann eins, dann zwei. Es war die dunkelste Stunde der Nacht. Die Wolken hingen tief, kein Stern war am Himmel. Ein Uhu heulte irgendwo zwischen den Felsen; das war das einzige Geräusch, abgesehen vom leisen Rauschen des Windes. Doch dann hörte ich es plötzlich! Von weit entfernt unten im Tunnel kamen jene gedämpften Schritte, so weich und doch so schwer. Ich hörte auch das Klacken der Steine, die von den Riesenfüßen getreten wurden. Die Schritte kamen näher, sie waren ganz dicht bei mir. Ich hörte das Krachen der Büsche vor dem Eingang, dann konnte ich durch die Dunkelheit schwach die Umrisse eines enormen Körpers erkennen, eine riesige, primitive Kreatur, die schnell und sehr leise aus dem Tunnel kam. Ich war gelähmt von Furcht und Erstaunen. Solange ich schon gewartet hatte, war ich doch jetzt nicht auf sein Erscheinen gefaßt. Ich lag bewegungslos, ohne zu atmen, während die große dunkle Masse an mir vorüberstrich und von der Nacht verschlungen wurde.
Doch jetzt fieberte ich seiner Rückkehr entgegen. Kein Laut kam aus der schlafenden Landschaft, der darauf hindeutete, daß ein Ungeheuer dort frei herumlief. In keiner Weise konnte ich beurteilen, wie weit es entfernt war, was es tat oder wann es zurückkommen würde. Aber kein zweites Mal sollten meine Nerven versagen, kein zweites Mal soll es ungehindert an mir vorbeilaufen. Diesen Schwur preßte ich durch meine zusammengebissenen Zähne, als ich auf dem Felsblock mein Gewehr anlegte.
Und doch wäre es beinahe wieder passiert. Völlig unbemerkt hatte sich mir das Monstrum über die Weide wieder genähert. Plötzlich, wie ein dunkler, schwebender Schatten, zeichnete sich der große Brocken wieder vor mir ab und bewegte sich auf den Eingang der Höhle zu. Wieder war mein Wille gelähmt, mein Zeigefinger lag verkrampft und nutzlos auf dem Abzugshebel. Mit verzweifelter Anstrengung überwand ich diesen Zustand. Gerade, als die Büsche raschelten und das unheimliche Monster mit dem Schatten der Felsenöffnung verschmolz, feuerte ich auf die sich entfernende Silhouette. Im Blitz des Gewehrfeuers sah ich für einen Augenblick eine große scheckige Masse, etwas rauh und stoppelig Behaartes, oben grau wie Stein, nach unten in weiß übergehend, das auf kurzen, dicken Krummbeinen lief. Ich hatte nur diesen kurzen Blick, dann hörte ich am Rasseln der Steine, daß das Wesen in seinen Bau hinabstieg. Augenblicklich hatte ich in einem triumphalen Gefühl von Stärke meine Ängste vergessen, mit der Flinte in der Hand und der Laterne vor mir sprang ich von meinem Felsen herunter und eilte dem Ungeheuer hinterher, hinunter in den alten römischen Schacht.
Die gute Laterne ließ eine glänzende Flut lebendigen Lichts vor mir strömen, ganz anders als der gelbliche Schimmern der mir denselben Weg nur zwölf Tage vorher beleuchtet hatte. Das große Untier sah ich vor mir hertaumeln, der hohe Balg füllte den ganzen Raum von Wand zu Wand. Sein Haar hing, wie krauses Werg, in langen, dicken Büscheln herunter und schwang beim Laufen auf und ab, Es sah aus wie ein riesiges ungeschorenes Schaf in seinem vollen Vlies, war jedoch weit größer als dei größte Elefant; es schien fast so breit wie hoch zu sein, jetzt erfüllt es mich mit Erstaunen, daß ich gewagt haben soll, solch einem Ungeheuer in den Schlund der Erde zu folgen, doch wenn das Blut einmal in Wallung ist und wenn die Beute zu entkommen droht, erwacht der urzeitliche Jagdinstinkt, und die Vernunft bleibt zurück. Die Flinte in der Hand, folgte ich, so schnell ich konnte, der Spur des Monsters.
Ich hatte gesehen, daß das Wesen flink war. Nun sollte ich zu meinem Schaden noch lernen, daß es auch schlau war. Ich hatte gedacht, es sei in wilder Flucht, so daß ich es nur zu verfolgen hätte. Der Gedanke, es könnte etwa umkehren, kam mir nie in den Sinn. Ich habe schon gesagt, daß der Gang, den ich hinunterlief, in eine große Zentralhöhle mündete. Ängstlich besorgt, die Spur des Untiers nicht ganz zu verlieren, stürzte ich dort hinein. Aber es war auf der eigenen Spur umgekehrt, in diesem Augenblick standen wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
Dieses Bild, im strahlend weißen Licht der Laterne, hat sich meinem Hirn für immer eingebrannt. Das Ungetüm hatte sich wie ein Bär auf seinen Hinterbeinen aufgerichtet und stand über mir, riesig, drohend - ein Unwesen, wie es mir noch kein Alptraum beschert hatte. Wie ich schon sagte, stand es wie ein Bär auf den Hinterbeinen, es hatte überhaupt Ähnlichkeiten mit einem Bären, in seiner ganzen Pose und Bewegung - nur etwa zehnmal so groß: seine massigen krummen Vorderläufe mit elfenbeinweißen Klauen, sein zerzaustes Fell und sein rotes, weit offenes Maul mit riesigen Fangzähnen. Nur in einem Punkt unterschied es sich vom Bären sowie von allen anderen Lebewesen, die auf Erden wandeln. Es hatte große, vorspringende Glubschaugen, die im Licht meiner Laterne weißlich, offensichtlich blind, schimmerten. Im Moment schwangen seine mächtigen Tatzen über meinem Kopf. Im nächsten Augenblick fiel es vorwärts auf mich, ich stürzte mit der zerbrochenen Lampe zu Boden, weiter kann ich mich nicht erinnern.
Als ich zu mir kam, war ich wieder im Hause der Allertons. Zwei Tage waren vergangen seit meinem schrecklichen Abenteuer in der Höhle. Scheinbar hatte ich die ganze Nacht, bewußtlos von der Gehirnerschütterung, mein linker Arm und zwei Rippen mehrfach gebrochen, in der Höhle gelegen. Morgens hatte man meinen Zettel entdeckt und mit einem Dutzend Farmern einen Suchtrupp zusammengestellt. Ich war herübergetragen und in mein Bett gebracht worden, wo ich stark delirierend die folgenden beiden Tage verbracht hatte. Wie es aussieht, gibt es keine Spur des Ungeheuers, kein Blutfleck, der gezeigt hätte, daß meine Kugel es getroffen hat. Abgesehen von meinem eigenen Zustand und den Fußabdrücken auf dem Schlammfleck gab es keinen Beweis dafür, daß ich die Wahrheit sagte.
Sechs Wochen sind nun verstrichen, und ich kann wieder in der Sonne sitzen. Direkt gegenüber ist der Steilhang, felsengrau, und am Fuß ist der dunkle Spalt, der die Öffnung von Blue John Gap markiert. Aber das ist nicht länger eine Quelle des Schreckens. Nie wieder wird durch diesen verwunschenen Tunnel ein fremder Schatten in die Welt des Menschen gleiten. Die gebildeten Menschen und die Wissenschaftler, die Dr. Johnsons und wie sie alle heißen, mögen lächeln über meine Geschichte, aber die einfachen Leute vom Lande haben nie an ihrer Wahrheit gezweifelt. Einen Tag, nachdem ich wieder bei Bewußtsein war, versammelten sie sich zu Hunderten vor Blue John Gap. Der »Castleton-Kurier« schrieb:
»Die Angebote unseres Korrespondenten sowie mehrerer Abenteurer aus Matlock, Buxton und von ferneren Orten, in die Höhle hinabzusteigen und sie bis zum Ende zu erforschen, um die außergewöhnliche Geschichte des Dr. James Hardcastle zu prüfen, waren zwecklos. Das Landvolk hatte die Sache, selbst in die Hand genommen. Seit dem frühen Morgen hatten sie den Eingang des Tunnels in harter Arbeit verstopft. Wo der Schacht beginnt, ist ein steiler Abhang. Dahinunter warf man so lange große Felsblöcke, die von vielen Freiwilligen herbeigerollt worden waren, bis der Felsspalt absolut zu war. So endet die Episode, die eine solche Aufregung im ganzen Land verursacht hat. Die örtlichen Meinungen über diese Affäre sind tief gespalten. Zum einen gibt es die, welche auf Dr. Hardcastles angeschlagene Gesundheit hinweisen und für möglich halten, daß eine Geistesschwäche tuberkulösen Ursprungs bei ihm starke Halluzinationen verursacht hat. Diese Herrschaften vermuten, daß irgendeine fixe Idee den Doktor veranlaßt hat, in den Tunnel hinabzusteigen, und daß er sich seine Verletzungen bei einem Sturz zwischen die Felsen zugezogen hat. Andererseits gibt es seit einigen Monaten Gerüchte über eine seltsame Kreatur in der Höhle, die Farmer jedenfalls sehen Dr. Hardcastles Geschichte und seine Verletzungen im Zusammenhang damit. Das ist der Stand der Dinge, das wird er auch bleiben, denn eine endgültige Lösung scheint uns unmöglich zu sein. Der Versuch, irgendeine wissenschaftliche Erklärung für die angeführten Fakten zu finden, übersteigt wohl den menschlichen Geist.«