»Ich komme wegen der - «
»Ganz recht, Sir«, sagte der Diener. »Lord Linchmere wird Sie sogleich in der Bibliothek empfangen.«
Lord Linchmere! Ich hatte den Namen schon irgendwo gehört, konnte mich aber im Moment an nichts Genaues erinnern. Ich folgte dem Diener in einen großen Raum voller Bücher; dort saß hinter einem Schreibtisch ein kleiner Mann mit einem hübschen, glattrasierten, beweglichen Gesicht und langem, graumeliertem Haar, das ganz nach hinten gekämmt war. Er betrachtete mich von oben bis unten mit einem sehr scharfen, bohrenden Blick, während er die Karte, die der Diener ihm gegeben hatte, in der rechten Hand hielt. Dann lächelte er, wirklich hübsch, und ich fühlte, daß ich jedenfalls äußerlich die Qualifikationen besaß, die er wünschte.
»Sie kommen auf mein Inserat hin, Dr. Hamilton?« fragte er.
»Ja, Sir.«
»Sie erfüllen die Bedingungen, die dort aufgeführt sind?«
»Das nehme ich an.«
»Sie sind ein kräftiger Mann, oder Sie sehen jedenfalls so aus.«
»Ich glaube, ich bin ziemlich stark.«
»Und energisch?«
»Ich glaube wohl.«
»Haben Sie jemals erfahren, was es heißt, einer akuten Gefahr ausgesetzt zu sein?«
»Nein, nicht daß ich wüßte.«
»Aber Sie glauben, Sie könnten in einer solchen Situation schnell und überlegt handeln?«
»Das hoffe ich.«
»Gut, ich glaube, Sie könnten es. Ich habe um so mehr Vertrauen in Sie, weil Sie nicht vorgeben, sicher zu sein, was Sie tun würden in einer Lage, die Ihnen neu wäre. Mein Eindruck ist, daß Sie, soweit es um persönliche Qualitäten geht, genau der Mann sind, nach dem ich gesucht habe. Nachdem das nun geregelt ist, können wir zum nächsten Punkt übergehen.«
»Welcher wäre?«
»Erzählen sie mir etwas über Käfer.«
Ich sah ihn an, um zu sehen, ob er scherzte, doch im Gegenteil, er saß angestrengt über seinen Schreibtisch gebeugt, in seinen Augen eine gewisse Unruhe.
»Ich fürchte, Sie wissen nichts über Käfer«, schrie er.
»Ganz im Gegenteil, Sir, das ist ein Forschungsgebiet, in dem ich in der Tat einiges zu wissen meine.«
»Ich bin überglücklich, das zu hören. Bitte erzählen Sie mir etwas über Käfer.«
Ich erzählte. Ich behaupte nicht, irgend etwas Neues über den Gegenstand gesagt zu haben, aber ich gab einen kurzen Abriß der Charakteristika des Käfers und nannte die bekannteren Arten, nicht ohne einige Anspielungen auf die Exemplare meiner eigenen kleinen Sammlung sowie auf den Artikel über Wühlkäfer einfließen zu lassen, den ich im »Journal of Entomological Science« veröffentlicht hatte.
»Was! Ein Sammler?« rief Lord Linchmere. »Sie meinen, Sie sind selbst ein Sammler?« Bei dem Gedanken tanzten seine Augen vor Vergnügen.
»Sie sind sicher für meinen Zweck der einzige Mann in London. Ich dachte mir, unter fünf Millionen Menschen muß es einen solchen Mann geben, das Problem ist nur, ihn herauszusuchen. Ich hatte außerordentliches Glück, Sie zu finden.« Er läutete eine Glocke, die auf dem Tisch stand, und der Diener betrat den Raum.
»Bitte Lady Rossiter um die Güte, sich hierher zu begeben«, sagte Seine Lordschaft, und wenige Augenblick später wurde die Lady ins Zimmer geführt. Sie war eine kleine Frau mittleren Alters, Lord Linchmere sehr ähnlich, mit den gleichen flinken, gleitenden Bewegungen und grauschwarzem Haar. Der Ausdruck der Unruhe, den ich in seinem Gesicht beobachtet hatte, war jedoch auf ihrem weitaus deutlicher. Irgendein großer Kummer schien seinen Schatten auf ihre Züge zu werfen. Als Lord Linchmere mich vorstellte, wandte sie mir ihr Gesicht voll zu, und zu meinem Schrecken sah ich eine halb verheilte, fünf Zentimeter breite Narbe über ihrer rechten Augenbraue. Zum Teil war sie von einem Pflaster bedeckt, doch nichtsdestotrotz konnte ich sehen, daß es eine schwere Wunde war, nicht allzu alt.
»Dr. Hamilton ist der Mann, den wir gesucht haben, Evelyn«, sagte Lord Linchmere. »Er ist tatsächlich ein Käfersammler, er hat auch Artikel darüber geschrieben.«
»Wirklich!« sagte Lady Rossiter. »Dann müssen Sie von meinem Mann gehört haben. Jeder, der nur etwas mit Käfern zu tun hat, muß von Sir Thomas Rossiter gehört haben.«
Zum ersten Mal kam etwas Licht in diese dunkle Angelegenheit. Hier war endlich die Verbindung zwischen diesen Leuten und den Käfern. Sir Thomas Rossiter - das war die bedeutendste Autorität der Welt auf diesem Gebiet. Er hatte sein Leben lang die Käfer studiert und ein erschöpfendes Werk darüber geschrieben. Ich beeilte mich, der Lady zu versichern, daß ich es natürlich gelesen hätte und sehr schätzte.
»Sind Sie je meinem Gatten begegnet?« fragte sie.
»Nein, nie.«
»Sie werden ihm begegnen«, sagte Lord Linchmere entschieden.
Die Dame stand neben dem Tisch und legte eine Hand auf seine Schulter. Als ich ihre Gesichter nebeneinander sah, war mir sofort klar, daß sie Geschwister waren.
»Bist du wirklich bereit dazu, Charles? Es ist großzügig von dir, doch du machst mir angst.« Ihre Stimme zitterte vor Furcht, und er schien mir das gleiche zu fühlen, obwohl er sich bemühte, seine Aufregung zu verbergen.
»Ja, ja, meine Liebe; alles steht fest, alles ist beschlossen, wirklich, ich sehe keine andere Möglichkeit.«
»Es gibt eine Möglichkeit.«
»Nein, nein, Evelyn, ich werde dich niemals im Stich lassen -niemals. Es wird schon gut werden - vertraue darauf; es wird schon werden, ja, es sieht aus, als ob uns durch den Einfluß der Vorsehung ein so perfektes Werkzeug in die Hände gelegt werden soll.«
Ich war verlegen, denn ich fühlte, daß Sie im Moment meine Anwesenheit vergessen hatten. Doch Lord Linchmere kam plötzlich auf mich und mein Engagement zurück.
»Ihre Aufgabe wird es sein, Dr. Hamilton, sich absolut zu meiner Verfügung zu halten. Ich möchte, daß Sie mich auf eine kurze Reise begleiten und immer an meiner Seite bleiben. Sie sollen mir versprechen, ohne Fragen alles zu tun, worum ich Sie bitten werde, egal wie unvernünftig es Ihnen auch erscheinen mag.«
»Sie verlangen einiges von mir«, sagte ich.
»Unglücklicherweise kann ich keine ausführlicheren Erklärungen abgeben, da ich selbst nicht weiß, welche Wendung die Dinge nehmen können. Jedenfalls können Sie sicher sein, daß ich Sie um nichts bitten werde, was Sie mit Ihrem Gewissen nicht vereinbaren können; und ich verspreche Ihnen, daß Sie, wenn alles vorbei sein wird, stolz sein werden, an einem so guten Werk beteiligt gewesen zu sein.«
»Wenn es gutgeht«, sagte Lady Evelyn.
»Genau, wenn es gutgeht«, wiederholte der Lord.
»Und die Bedingungen?« fragte ich.
»Zwanzig Pfund pro Tag.«
Ich war erstaunt über die Summe, und meine Miene muß die Überraschung wohl verraten haben.
»Wir verlangen eine seltene Kombination von Fähigkeiten, wie Ihnen beim Lesen der Anzeige aufgefallen sein wird«, sagte Lord Linchmere; »solche verschiedenen Begabungen bedingen eine angemessene Gegenleistung, und ich will Ihnen nicht verbergen, daß Ihre Pflichten schwierig, wenn nicht gefährlich sein werden. Außerdem ist es möglich, daß die Sache in ein oder zwei Tagen abgeschlossen sein wird.«
»So Gott will!« seufzte seine Schwester.
»Nun, Dr. Hamilton, kann ich mich auf Ihre Unterstützung verlassen?«
»Jawohl«, sagte ich. »Sie müssen mir nur sagen, was ich zu tun habe.«
»Zuerst sollen Sie wieder nach Hause gehen und ein paar Sachen zusammenpacken, was immer Sie für einen kurzen Besuch auf dem Lande benötigen. Wir fahren zusammen vom Paddington-Bahnhof, heute nachmittag um drei Uhr vierzig.«
»Fahren wir weit weg?«
»Bis Pangbourne. Um drei Uhr dreißig treffen wir uns am Bahnhofskiosk. Die Tickets werde ich dabeihaben. Auf Wiedersehen, Dr. Hamilton! Übrigens, ich wäre sehr froh, wenn Sie zwei Dinge mitbringen könnten, falls Sie sie haben. Das eine ist Ihr Kästchen zum Käfersammeln, das andere ein Knüppel, je dicker und schwerer, desto besser.«