Ihr könnt euch vorstellen, daß ich bis zu der ausgemachten Zeit eine Menge Stoff zum Nachdenken hatte. In meinem Kopf setzte sich das Puzzle, das der ganze phantastische Fall darstellte, zu immer neuen Bildern zusammen, bis ich mir schließlich ein Dutzend Erklärungen zurechtgelegt hatte, eine grotesker und unwahrscheinlicher als die andere. Trotzdem fühlte ich, daß die Wahrheit genauso grotesk und unwahrscheinlich sein mußte. Schließlich gab ich alle Versuche auf, eine Antwort zu finden, und konzentrierte mich darauf, die Instruktionen, die ich erhalten hatte, genau auszuführen. Mit Reisetasche, Käferkasten und einem schweren, gefüllten Rohr wartete ich am Kiosk in Paddington, bis Lord Linchmere eintraf. Er war noch kleiner, als ich gedacht hatte - zart und kränklich benahm er sich noch nervöser als am Morgen. Er trug einen langen, dicken Reisemantel; in der Hand hielt er einen schweren Schwarzdorn-Knüttel.
»Ich habe die Fahrkarten«, sagte er und schlug den Weg zum Bahnsteig ein.
»Dies ist unser Zug. Ich habe einen Wagen reservieren lassen, denn ich muß Ihnen unterwegs unbedingt ein, zwei Dinge erklären.«
Dennoch, alles, was er mir erklären wollte, hätte er in einem Satz sagen können, er wollte mich nämlich lediglich daran erinnern, daß ich zu seinem Schutz da war und daß ich ihn auf keinen Fall auch nur für einen Augenblick alleinlassen durfte. Das wiederholte er immer wieder mit einer Eindringlichkeit, die zeigte, daß seine Nerven ernsthaft angeschlagen waren.
»Ja«, sagte er zum Schluß, indem er eher meinen Blicken als meinen Fragen antwortete. »Ja, ich bin nervös, Dr. Hamilton. Ich war immer ein ängstlicher Mensch, meine Ängstlichkeit hängt mit meinem zerbrechlichen Gesundheitszustand zusammen. Aber meine Seele ist stark, und ich kann mich dazu überwinden, einer Gefahr ins Auge zu sehen, vor der ein weniger ängstlicher Mann vielleicht zurückschreckt. Keiner zwingt mich zu dem, was ich jetzt tue, es ist nur mein Pflichtgefühl, das mich dazu treibt, ein unabsehbares Risiko einzugehen. Wenn die Sache schiefgeht, darf ich mich getrost Märtyrer nennen lassen.«
Dieses ewige Reden in Rätseln war zuviel für mich. Ich mußte dem ein Ende setzen.
»Ich denke, es wäre viel besser, Sir, wenn Sie mir Ihr volles Vertrauen schenken würden«, sagte ich. »Es ist mir unmöglich, effektiv zu handeln, wenn ich nicht weiß, womit wir es zu tun haben werden oder wenigstens, wohin die Reise geht.«
»Oh, aus unserem Ziel brauche ich kein Geheimnis zu machen«, erwiderte er; »wir fahren nach Delamere Court, dem Sitz von Sir Thomas Rossiter, dessen Werk Sie so gut kennen.
Was den genauen Zweck unseres Besuches betrifft, so weiß ich nicht, Dr. Hamilton, ob in diesem Stadium des Unternehmens irgend etwas gewonnen würde, indem ich Sie vollständig einweihte. Ich kann Ihnen sagen, daß alles, was wir tun - ich sage >wir<, weil meine Schwester, Lady Rossiter, denselben Standpunkt einnimmt wie ich - darauf ausgerichtet ist, jede Art eines Familienskandals zu vermeiden. Deshalb können Sie verstehen, daß ich nicht willens bin, Erklärungen abzugeben, die nicht unbedingt notwendig sind. Eine andere Sache wäre es, Dr. Hamilton, wenn ich Sie um Rat fragen würde. Wie die Dinge liegen, benötige ich lediglich Ihre tatkräftige Hilfe, und ich werde Ihnen von Zeit zu Zeit klarmachen, wie Sie mir am besten helfen können.«
Dem war nichts hinzuzufügen, ein armer Mann kann viel schlucken für zwanzig Pfund pro Tag, nichtsdestoweniger fühlte ich mich aber recht gemein behandelt. Er wollte mich als passives Werkzeug, wie der Knüppel in seiner Hand. Ich konnte mir jedoch bei seiner psychischen Disposition immerhin vorstellen, daß ein Skandal für ihn das Schrecklichste war. Es war mir klar, daß er mich nicht ins Vertrauen ziehen würde, bis ihm kein anderer Ausweg blieb. Ich mußte mich auf meine eigenen Augen und Ohren verlassen, um das Geheimnis zu lüften, ich war mir jedoch sicher, daß das nicht umsonst sein würde.
Delamere Court liegt gut fünf Meilen vom Bahnhof in Pangbourne entfernt. Diese Strecke legten wir in einer offenen Kutsche zurück. Auf dem Weg war Lord Linchmere tief in Gedanken, er sprach nicht, bis wir nahe am Ziel waren. Dann gab er mir eine Information, die mich überraschte.
»Vielleicht wissen Sie nicht«, sagte er, »daß ich Mediziner bin wie Sie?«
»Nein, Sir, das wußte ich nicht.«
»Ja, ich absolvierte die Ausbildung in jüngeren Jahren, als ich in der Erbfolge meines Titels noch weit hinten stand. Ich hatte zwar nie Gelegenheit, zu praktizieren, hielt die Ausbildung aber für jedenfalls nützlich. Ich habe die Jahre nie bereut, welche ich dem Studium der Medizin widmete. Dort ist die Einfahrt von Delamere Court.«
Wir waren an zwei hohen, von heraldischen Ungeheuern gekrönten Säulen angekommen, die den Anfang einer gewundenen Fahrstraße flankierten. Über Lorbeerbüsche und Rhododendron hinweg konnte ich ein langgestrecktes Landschloß mit vielen Seitenflügeln sehen, das, von Efeu umwachsen, in der wannen, freundlichen Farbe alten Backsteins glühte. Ich starrte noch voller Bewunderung auf dieses wunderschöne Haus, als mein Begleiter nervös an meinem Ärmel zupfte.
»Dort ist Sir Thomas«, flüsterte er. »Bitte reden Sie nur über Käfer, alles, was Sie wissen.«
Eine lange, dünne Gestalt, seltsam spitz und knochig, war durch eine Lücke in der Lorbeerhecke geschlüpft. Er hatte einen Spaten in der Hand und trug abgewetzte Gärtnerkleidung. Ein breitrandiger, grauer Hut hielt sein Gesicht im Schatten, doch es fielen mir sofort die außerordentliche Strenge, ein schlecht gepflegter Bart und die harten, unregelmäßigen Gesichtszüge darin auf. Die Kutsche fuhr vor, und Lord Linchmere sprang ab.
»Mein lieber Thomas, wie geht es dir?« fragte er herzlich.
Doch die Herzlichkeit wurde keineswegs erwidert. Der Eigentümer der Ländereien funkelte mich über die Schulter seines Schwagers hinweg an, ich hörte Satzfetzen -»wohlbekannte Wünsche, hasse Fremde, nicht zu rechtfertigendes Eindringen. vollkommen unentschuldbar.« Dann gab es ein Gemurmel, und die beiden kamen zusammen an die Kutsche.
»Dr. Hamilton, ich möchte Sie Sir Thomas Rossiter vorstellen«, sagte Lord Linchmere. »Sie werden sehen, wie stark die Gemeinsamkeit Ihrer Interessen sein wird.«
Ich verbeugte mich. Sir Thomas sah mich unter seiner breiten Hutkrempe mit ernsten Augen an.
»Lord Linchmere erzählt mir, daß Sie etwas über Käfer wissen«, sagte er. »Was wissen Sie über Käfer?«
»Ich weiß, was ich aus Ihrem Buch über die Coleoptera gelernt habe, Sir Thomas«, antwortete ich.
»Zählen Sie mir die Namen der bekannteren britischen Skarabäen auf«, forderte er.
Ich hatte nicht mit einer Prüfung gerechnet, doch glücklicherweise war ich durchaus präpariert dafür. Meine Antworten schienen ihn zu befriedigen, denn seine steifen Züge entspannten sich.
»Mir scheint, Sie haben mein Buch nicht umsonst gelesen, Sir«, sagte er. »Ich treffe nur selten jemanden, der sich in vernünftigerweise für diese Dinge interessiert. Die Leute finden Zeit für solche Trivialitäten wie Sport oder Tanzen, dabei werden die Käfer übersehen. Ich kann Ihnen versichern, daß der größte Teil der Idioten in diesem Teil des Landes überhaupt nicht weiß, daß ich jemals ein Buch geschrieben habe - ich, der erste Mensch, der jemals die wahre Funktion der Elytra beschrieb. Ich freue mich, Sie zu sehen, Sir, und bin sicher, Ihnen einige Exemplare zeigen zu können, die Sie interessieren werden.« Er stieg in die Kutsche und fuhr mit uns zum Haus. Unterwegs erläuterte er mir einige neuere Forschungen, die er über die Anatomie des Marienkäfers angestellt hatte.
Ich sagte schon, daß Sir Thomas Rossiter einen großen Hut trug, den er tief in die Stirn gezogen hatte. Als wir nun die Halle betraten, entblößte er seinen Kopf, und ich sah sofort, was der Hut verbergen sollte. Seine Stirn, welche von Natur schon hoch war und durch sein schütteres Haar noch höher erschien, war in ständiger Bewegung. Ein Nervenleiden verursachte ein ununterbrochenes Muskelzucken, manchmal auch eine Art Drehbewegung der Stirnhaut, ganz anders als alles, was ich kannte. Als wir sein Studierzimmer betreten hatten, wandte er sich uns zu; jetzt fiel die Anomalie besonders ins Auge und wirkte im Kontrast zu den harten, ruhigen, grauen Augen, die unter den zuckenden Brauen hervorblickten, um so einzigartiger.