»Da...!« stöhnte er und packte mich am Handgelenk, sein Blick immer noch in die eisige Ferne gerichtet, sein Kopf drehte sich langsam mit einem Objekt, dessen Bewegung auf dem Eis er zu verfolgen schien. »Schau, da, Mann, da! Jetzt kommt sie hinter dem Eisblock ganz hinten hervor! Siehst du sie? - Du mußt sie sehen! Mein Gott, sie flieht vor mir - sie verschwindet!«
Die letzten Worte flüsterte er in höchster Qual, Worte, die ich nie mehr vergessen kann. Er klammerte sich an Leinen und versuchte verzweifelt, die Brüstung zu erklimmen, wie um der schwindenden Erscheinung nachzueilen. Doch seine Kräfte schwanden, er taumelte zurück und fiel gegen eine Lukentür, wo er um Atem ringend liegen blieb. Sein Gesicht war so fahl, das jeden Augenblick damit gerechnet werden mußte, daß er in Ohnmacht, fiel. Ich verlor also keine Zeit und führte ihn die Kajütentreppe hinunter. Schließlich legte ich ihn auf eine der Liegen in der Kabine. Der Brandy, den ich ihm vor die Lippen hielt, hatte die wunderbare Wirkung, daß er wieder etwas Farbe bekam und das Zittern aufhörte. Er stützte sich auf seine Ellbogen und sah sich um, ob wir allein waren. Dann bat er mich, neben ihm Platz zu nehmen.
»Du hast sie gesehen, nicht wahr?« fragte er mich. Das unterdrückte Grauen, das so gar nicht zu diesem Mann paßte, war noch nicht aus seiner Stimme verschwunden.
»Nein, ich habe nichts gesehen.«
Sein Kopf sank zurück auf das Kissen. »Wie sollte er auch etwas sehen können. ohne Fernglas. Das Glas hat sie mir gezeigt, und das Auge der Liebe - das Auge der Liebe. Bitte, Doc, laß den Steward nicht herein! Er wird denken, ich sei verrückt. Verriegele die Tür, ja, tu das!«
Ich tat, wie mir geheißen.
Offenbar gedankenverloren lag er einen Moment ruhig, dann richtete er sich wieder auf und bat um mehr Brandy.
»Glauben Sie, daß ich verrückt bin, Doktor?« Er schien jetzt wieder ganz klar zu sehen. »Sagen Sie, von Mann zu Mann, glauben Sie, ich bin wahnsinnig?«
»Ich denke, Sie haben ein großes Problem, das Sie sehr aufregt und Sie ganz schön mitnimmt«, antwortete ich.
»Genau richtig, mein Junge!« schrie er, seine Augen glänzten vom Brandy. »Das ist es - fürwahr, ein Problem! Doch Längen- und Breitengrade kann ich noch berechnen, ich kann den Sextanten bedienen und mit meinen Logarithmen umgehen. Vor keinem Gericht könnten Sie beweisen, daß ich wahnsinnig bin, oder?« Es war eigenartig, mitzuerleben, wie der Mann auf dem Sofa lag und freimütig über seinen eigenen Geisteszustand diskutierte.
»Vielleicht könnte ich das nicht«, sagte ich; »doch trotzdem meine ich, daß es das beste für Sie wäre, so schnell wie irgend möglich Richtung Heimat zu fahren und sich für eine Weile an einen ruhigen Platz zurückziehen.«
»Nach Hause, hä?« Er zog eine Grimasse. »Das ist eine Sache für mich und eine andere für dich, Kleiner. Nach Hause fahren und mich zurückziehen mit Flora - die liebe kleine Flora. Sind schlechte Träume ein Zeichen von Wahnsinn?«
»Manchmal«, antwortete ich.
»Was gibt es noch für Symptome? Was ist das erste?«
»Kopfschmerzen, Ohrensausen, Dunkelheit und Blitze vor den Augen, Halluzinationen.«
»Aha, weiter!« unterbrach er. »Was würdest du eine Halluzination nennen?«
»Dinge sehen, die nicht da sind, das ist eine Halluzination.«
»Aber sie war da!« brummte er und erhob sich. Mit langsamen, unsicheren Schritten ging er hinüber zu seiner eigenen Kabine, die er sicherlich vor morgen früh nicht mehr verlassen wird. Was immer es war, was er zu sehen geglaubt hatte, es hat ihn schwer erschüttert. Jeden Tag wird mir das Geheimnis um diesen Mann unheimlicher, obwohl ich fürchte, daß seine eigene Erklärung richtig und sein Verstand angeschlagen ist. Ich glaube nicht, daß ein schlechtes Gewissen der Grund für sein Verhalten ist. Die Idee ist zwar populär unter den Offizieren, und soweit ich beurteilen kann, auch bei der Mannschaft, doch ich sehe keinen Anhaltspunkt dafür. Er macht nicht den Eindruck eines Mannes, der Schuld auf sich geladen hat. Ich kann mir eher vorstellen, daß das Schicksal ihm übel mitgespielt hat und daß er nicht als Täter, sondern als Opfer betrachtet werden muß.
Der Wind dreht nach Süden. Gott steh uns bei, wenn er uns den einzigen schmalen Pfad in die Sicherheit versperrt! In unserer Lage am Rande des arktischen Hauptmassivs treibt Wind aus nördlichen Richtungen das Eis um uns auseinander und macht uns den Rückweg frei, während uns südliche Winde zwischen zwei Eisfeldern einschließen können. Dann, wie gesagt, gnade uns Gott!
14. SEPTEMBER - Sonntag, Ruhetag. Meine Befürchtungen haben sich bestätigt, die schmale Wassergasse nach Süden ist verschwunden. Nichts mehr um uns als die riesigen Eisfelder mit ihren bizarren Kristallbergen und Eisspitzen. Die Stille scheint tödlich und erfüllt mich mit Schrecken. Keine Welle klatscht mehr gegen den Schiffsrumpf, keine Möwe, kein Lebewesen begleitet uns mehr, nur noch diese allumfassende Stille, in der die Stimmen der Matrosen und ihre Schritte auf dem strahlend weißen Deck wie Fremdkörper wirken. Unser einziger Besucher war ein Polarfuchs, ein Tier, das sich recht selten vom Festland aufs Packeis wagt. Er beobachtete uns aus sicherer Entfernung und machte sich dann schnell aus dem Staub. Ein ungewöhnliches Verhalten für einen Polarfuchs, denn normalerweise hat er keine Scheu vor Menschen, da er sie nicht kennt, und läßt sich leicht fangen. Es klingt unglaublich, doch sogar dieser unbedeutende Vorfall wurde von der Crew als schlechtes Zeichen gewertet. »Jaujau, du und ich, mein Tierchen, riechen, wo es stinkt - nach Tod!« war der Kommentar eines der ältesten Harpuniere, und die anderen nickten nur. Jeder Versuch, gegen solchen Aberglauben anzureden, muß vergeblich sein. Sie haben sich einmal entschieden, daß ein Fluch auf dem Schiff liegt, und nichts wird sie jemals mehr vom Gegenteil überzeugen.
Bis auf eine halbe Stunde am Nachmittag, als er kurz aufs Hauptdeck kam, blieb der Kapitän den ganzen Tag in seiner Kabine. Ich sah, daß er die ganze Zeit auf den Punkt starrte, wo er gestern die Erscheinung erblickt hatte, und war darauf vorbereitet, daß er jeden Moment einen neuen Anfall bekommen würde. Doch nichts passierte. Anscheinend sah er mich gar nicht, obwohl ich dicht neben ihm stand. Der Gottesdienst wurde für gewöhnlich vom Chefingenieur abgehalten. Fürwahr eine seltsame Sitte, daß auf Walfangschiffen stets das Gebetbuch der Anglikaner benutzt wird, obwohl diese Konfession weder bei Offizieren noch in der Mannschaft vertreten ist. Unsere Männer sind alle entweder römisch-katholisch oder Presbyterianer, wobei erstere in der Mehrheit sind. Da die englische Zeremonie beiden Gruppen fremd ist, kann sich keine zurückgesetzt fühlen; alle hören aufmerksam und voller Andacht zu, was eindeutig für dieses System spricht.
Ein herrlicher Sonnenuntergang ließ die Eisfelder wie ein Meer von Blut aussehen. Ich kann mich an keinen Anblick erinnern, der so schön und gleichzeitig so irrsinnig wirkt. Der Wind dreht wieder. Wenn er jetzt vierundzwanzig Stunden von Norden bläst, wird am Ende alles noch gut.
15. SEPTEMBER - Floras Geburtstag. Mein Mädchen! Leider ist ihr Schatz, wie sie mich immer nannte, jetzt nicht bei ihr, weil er mit einem verrückten Kapitän und Proviant für ein paar Wochen im Packeis festsitzt. Bestimmt liest sie jeden Morgen im »Scotsman« die Schiffslisten, ob endlich unsere Ankunft bei Shetland gemeldet wird. Ich muß den Männern ein gutes Beispiel sein und froh und unbesorgt aussehen, doch Gott allein weiß, wie es manchmal in meinem Herzen aussieht.
Das Thermometer zeigt neunzehn Grad Fahrenheit. Es gibt nur schwachen Wind aus ungünstiger Richtung. Der Kapitän ist bester Laune. Wahrscheinlich hat er diese Nacht wieder jemanden übers Eis huschen sehen, der arme Mann, denn heute morgen früh kam er an meine Koje und flüsterte mir etwas zu: »Es war keine Täuschung, Doc, es ist alles in Ordnung!« Nach dem Frühstück bat er mich, zu prüfen, wieviel Proviant noch da ist. Der zweite Steuermann und ich gingen sofort an die Arbeit. Es sieht noch schlimmer aus, als wir erwartet hatten. Vorne stehen noch ein Kanister Kekse, drei Fässer Pökelfleisch und ganz wenig Kaffee und Zucker. Im Achterbunker und in den Boxen gibt es noch eine Menge Luxusgüter wie Lachs in Dosen, diverse Suppen, Hammelragout und ähnliches, doch das Zeug wird bei einer Mannschaft von fünfzig Köpfen nicht lange vorhalten. In der Speisekammer stehen noch zwei Fässer Mehl und unbegrenzte Vorräte an Tabak. Alles zusammen kann sich die Mannschaft, auf halbe Ration gesetzt, noch achtzehn oder zwanzig Tage ernähren, länger bestimmt nicht. Als wir dem Kapitän den Stand der Dinge gemeldet hatten, befahl er sofort alle Mann an Deck. Noch nie sah er in meinen Augen überzeugender aus. Mit seiner hohen, edlen Figur und dem finster entschlossenen Ausdruck in seinem Gesicht sah er wie ein Mann aus, der zum Befehlen geboren war. Auf abgeklärte, seemännische Art, die andeutete, daß er zwar die Gefahr suchte, aber auch ein Auge für jede kleinste Chance hatte, ihr zu entkommen, begann er seine Ansprache.