»Es tut mir leid«, sagte er, »daß Lady Rossiter zu Ihrer Begrüßung nicht anwesend ist. Übrigens, Charles, sagte sie irgend etwas über einen Termin für ihre Rückkehr?«
»Sie wollte noch einige Tage in der Stadt bleiben«, antwortete Lord Linchmere. »Du weißt, wie sich die gesellschaftlichen Pflichten einer Lady häufen, wenn sie längere Zeit auf dem Land, verbracht hat. Meine Schwester trifft im Moment viele alte Freunde in London.«
»Gut, sie ist ihre eigene Herrin, und ich sollte nicht versuchen, ihre Pläne zu ändern. Ich werde jedoch froh sein, sie wiederzusehen. Ohne ihre Gesellschaft ist es sehr einsam hier.«
»Das habe ich befürchtet und war einer der Gründe, weswegen ich mich hierher auf den Weg gemacht habe. Mein junger Freund, Dr. Hamilton, ist so interessiert an dem Thema, das du zu dem deinen gemacht hast, daß ich dachte, es würde dich nicht stören, wenn er mich begleitet.«
»Ich führe ein zurückgezogenes Leben, Dr. Hamilton, und meine Abneigung gegen Fremde wächst ständig«, sagte unser Gastgeber. »Manchmal hielt ich meine Nerven für schlechter, als sie sind. Meine Käferexpeditionen in jüngeren Jahren haben mich in viele malariaverseuchte, ungesunde Gegenden geführt. Ein Forschungskollege wie Sie ist mir jedoch immer ein willkommener Gast. Ich würde mich freuen, wenn Sie meine Sammlung durchsehen wollten, die ich, glaube ich, ohne Übertreibung als die beste in Europa bezeichnen kann.«
Das war sie ohne Zweifel. Er besaß einen großen Eichenschrank, der mit flachen Schubfächern ausgestattet war, in denen sich, jeder einzelne akkurat bezeichnet und klassifiziert, Käfer aus allen Ecken der Welt befanden, schwarze, braune, blaue, grüne und gepunktete. Hin und wieder, als er mit der Hand die Reihen und Reihen präparierter Insekten entlangfuhr, nahm er ein seltenes Exemplar heraus und reichte es mir mit solcher Sorgfalt und Ehrerbietung herüber, als handele es sich um eine wertvolle Reliquie; dann hielt er jeweils einen kleinen Vortrag über seine Besonderheiten und die Umstände, unter denen es in seinen Besitz kam. Offensichtlich war es für ihn ein seltener Anlaß, mit einem geneigten Zuhörer zusammenzusitzen, er redete und redete bis in den Abend, als ein Gong verkündete, daß es Zeit war, sich zum Dinner umzuziehen. Die ganze Zeit über sagte Lord Linchmere nichts, er blieb lediglich an der Seite seines Schwagers und blickte ihm von Zeit zu Zeit ein wenig fragend ins Gesicht. Seine eigenen Züge drückten starke Gefühle aus, Furcht, Zuneigung, Erwartung. Ich war sicher, daß Lord Linchmere etwas fürchtete und erwartete, aber ich hatte keine Ahnung, was das wohl sein könnte.
Der Abend verlief ruhig und angenehm, und ich hätte unbeschwert sein können, wäre da nicht diese ständige Anspannung im Benehmen Lord Linchmeres gewesen. Was unseren Gastgeber betraf, so wurde er mir immer sympathischer, je näher ich ihn kennenlernte. Er hörte nicht auf, liebevoll von seiner Frau und seinem kleinen Sohn zu reden, der seit kurzem eine Schule besuchte. Er sagte, das Haus sei nicht mehr dasselbe ohne die beiden. Hätte er nicht seine wissenschaftlichen Studien, so wüßte er nicht, wie er über die Tage kommen sollte. Nach dem Dinner rauchten wir etwas im Billardraum und gingen schließlich früh zu Bett.
Und dann schoß zum ersten Mal der Verdacht durch meinen Kopf, daß Lord Linchmere wahnsinnig war. Als sich unser Gastgeber zurückgezogen hatte, folgte er mir in mein Schlafzimmer.
»Doktor«, sprach er zu mir in leiser, hastiger Stimme, »Sie müssen mit mir kommen. Sie müssen die Nacht in meinem Schlafgemach verbringen.«
»Wie meinen Sie?«
»Ich möchte das nicht erklären. Aber das ist ein Teil Ihrer Pflichten. Mein Zimmer ist in der Nähe, morgen früh, bevor der Diener Sie weckt, können Sie in Ihres zurückkehren.«
»Aber warum?« fragte ich.
»Weil ich Angst habe, allein zu sein«, sagte er. »Das ist der Grund, wenn Sie einen hören wollen.«
Es schien der blanke Wahnsinn zu sein, aber die zwanzig Pfund sind ein besseres Argument als alle Einwände.
Ich folgte ihm in sein Zimmer.
»Nun«, sagte ich, »in diesem Bett ist nur Platz für einen.«
»Es wird auch nur einer darin liegen.«
»Und der andere?«
»Der andere wird Wache halten.«
»Warum?« sagte ich. »Man könnte denken, Sie fürchten, angegriffen zu werden.«
»Vielleicht ist es so.«
»Warum verriegeln Sie dann nicht die Tür?«
»Vielleicht will ich überfallen werden.«
Es sah immer mehr nach Irrsinn aus. Jedenfalls konnte ich nichts anderes tun als gehorchen. Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich in den Armsessel neben dem leeren Kamin.
»Ich soll dann also wach bleiben?« sagte ich kummervoll.
»Wir werden die Nacht in zwei Schichten aufteilen. Wenn Sie bis zwei Uhr wachen, werde ich die restliche Zeit übernehmen.«
»Sehr gut.«
»Wecken Sie mich also um zwei.«
»Wie Sie wünschen.«
»Halten Sie die Ohren offen, und wenn Sie irgendein Geräusch hören, wecken Sie mich auf der Stelle - auf der Stelle, hören Sie?«
»Sie können sich darauf verlassen.« Ich versuchte, so ernst auszusehen wie er.
»Und schlafen Sie um Gottes willen nicht ein«, beschwor er mich; dann legte er sich zur Ruhe, nachdem er nur den Mantel ausgezogen und sich mit, der Überdecke zugedeckt hatte.
Es war eine traurige Wache, und das um so mehr, weil ich mir wie ein Narr vorkam. Angenommen, Lord Linchmere hatte irgendeinen Grund, sich im Hause von Sir Thomas Rossiter in Gefahr zu wähnen, warum in aller Welt konnte er sich dann nicht schützen, indem er die Tür abschloß? Seine Antwort, daß er sich vielleicht wünschte, angegriffen zu werden, war absurd. Warum sollte er sich das wünschen? Und wer wollte ihn angreifen? Klarer Fall, Lord Linchmere litt an einer eigenartigen Verwirrung, und ich wurde aus einem schwachsinnigen Grund meiner Nachtruhe beraubt. So verrückt es auch war, ich hatte seine Vorschriften zu befolgen, solange ich von ihm bezahlt wurde. Deshalb saß ich neben einer leeren Feuerstelle und hörte einem lautstarken Uhrwerk irgendwo am Ende des Korridors zu, das alle Viertelstunden knatterte und schlug. Die Wache nahm kein Ende. Abgesehen von der Uhr herrschte im ganzen Haus absolute Stille. Eine kleine Lampe stand auf einem Tisch neben mir und warf einen Lichtkreis rings um meinen Sessel, ließ jedoch die Ecken des Raumes im Schatten. Auf dem Bett hörte ich Lord Linchmere friedlich schnaufen. Ich neidete ihm seinen ruhigen Schlaf, und meine Augen fielen mir immer wieder zu, doch jedesmal kam mir mein Pflichtgefühl zu Hilfe, und ich setzte mich aufrecht, rieb meine Augen und zwickte mich, um meine unsinnige Wache zu Ende zu bringen.
Und ich schaffte es. Vom Korridor schlug es zwei, ich legte meine Hand auf die Schulter des Schlafenden. Er saß sofort aufrecht im Bett, in seinem Gesicht war der Ausdruck höchster Aufmerksamkeit zu sehen.
»Sie haben etwas gehört?«
»Nein, Sir, es ist zwei Uhr.«
»Sehr gut. Ich werde aufstehen. Sie können schlafen gehen.«
Ich legte mich unter die Zierdecke, wie er es getan hatte, und war sofort bewußtlos. Meine letzte Wahrnehmung war der Lichtkreis der Lampe und die kleine, aufrechte Gestalt mit dem angestrengten, ängstlichen Gesicht Lord Linchmeres in seiner Mitte.
Ich weiß nicht, wie lange ich schlief; aber durch einen heftigen Ruck an meinem Ärmel wurde ich plötzlich geweckt. Der Raum war jetzt dunkel, aber ein scharfer Ölgeruch sagte mir, daß die Lampe gerade erst gelöscht worden war.
»Schnell, schnell!« flüsterte Lord Linchmeres Stimme in mein Ohr. Ich sprang aus dem Bett, während er immer noch an meinem Ärmel zerrte.