»Jungs, ihr denkt bestimmt, ich habe euch in diese Klemme gebracht, wenn es denn eine Klemme ist, und vielleicht sind einige von euch deswegen böse auf mich. Aber ihr müßt auch daran denken, daß all die Jahre kein Schiff mehr Öl-Schillinge eingefahren hat als die alte Polestar; und jeder von euch hat immer seinen Anteil kassiert. Eure Frauen waren immer bestens versorgt, und ihr konntet sie beruhigt zurücklassen, während andere arme Kerle ihre Weiber auf dem Friedhof suchen mußten, wenn sie zurückkamen. Wenn ihr das eine haben wollt, müßt ihr auch mit dem anderen zufrieden sein, dann sind wir quitt. Wir haben schon früher waghalsige Touren unternommen und hatten immer Erfolg, beklagt euch also nicht, wenn es jetzt einmal nicht klappt. Wenn es zum Schlimmsten kommt, gehen wir übers Eis zum Festland und bringen uns mit Robbenfleisch über den Winter. Doch dazu wird es nicht kommen, denn bevor drei Wochen vergangen sind, werdet ihr die schottische Küste wiedersehen. Vorerst müßt ihr aber auf halbe Ration gehen, ihr müßt alles teilen, keiner darf bevorteilt werden. Haltet die Ohren steif, und ihr werdet diese Sache genauso durchstehen wie die Gefahren der letzten Jahre.« Diese wenigen, einfachen Worte hatten eine wunderbare Wirkung auf die Mannschaft. Die Unbeliebtheit Craigies war vergessen. Der alte Harpunier, dessen Aberglauben ich schon erwähnt habe, rief dreimal hoch, und alle fielen in den Jubel ein.
16. SEPTEMBER - Über Nacht hat der Wind nach Norden gedreht, das Eis scheint sich allmählich aufzulösen. Trotz der knappen Rationen ist die Stimmung in der Mannschaft gut. Die Maschine steht unter Dampf, so daß wir uns bei der ersten Gelegenheit unverzüglich davonmachen können. Der Kapitän ist nur noch bester Laune, obwohl in seinen Augen immer noch das Jenseitige, »fey«, schimmert, von dem ich früher sprach. Der derzeitige Ausbruch von Frohsinn verwirrt mich noch mehr als seine frühere Schwermut. Ich verstehe es einfach nicht. Ich glaube, ich habe schon in einem früheren Kapitel dieser Aufzeichnungen erwähnt, daß es einer seiner Ticks war, keinen Menschen in seine Kabine zu lassen, auch keinen Steward, daß er sogar sein Bett selbst herzurichten pflegte. Zu meiner Überraschung übergab er mir nun heute den Kabinenschlüssel und trug mir auf, an seinem Chronometer die Zeit abzulesen, während er die Höhe des Sonnenzenits messen wollte. In dem kleinen, kahlen Raum befindet sich neben einer Waschschüssel und einigen Büchern kaum etwas, das zur Wohnlichkeit beitragen könnte. Nur an den Wänden hängen eine Anzahl Bilder, die meisten davon billige Öldrucke, doch auch eine Aquarellzeichnung, die den Kopf einer jungen Dame darstellt. Offensichtlich handelt es sich um ein Originalportrait, nicht eine der Standard-Schönheiten, die sich Seeleute gern über die Koje hängen. Kein Maler könnte aus seiner Phantasie eine solch eigenartige Mischung aus Stärke und Zartheit entworfen haben. Die schläfrigen Traumaugen mit ihren schweren Lidern, und die tiefe, breite Stirn, die von keinem Gedanken oder Kummer getrübt zu sein schien, standen in scharfem Kontrast zu dem klar gezeichneten, energischen Kinn und dem eindeutigen, entschlossenen Mund. Rechts unten war die Zeichnung signiert: »M. B. 19«. Daß jemand von dieser Jugend eine solche Willenskraft entwickelt haben kann, wie sie sich in diesem Portrait ausdrückt, halte ich für schlechterdings unglaublich. Sie muß eine außergewöhnliche Frau gewesen sein. Ihre Züge haben sich meinem Gedächtnis so eingebrannt - obwohl ich nur einen ganz kurzen Blick auf das Bild werfen konnte -, daß ich sie Strich für Strich in diesem Heft nachzeichnen könnte, wenn ich ein Künstler wäre. Ich frage mich, welche Rolle sie wohl in Craigies Leben gespielt hat. Ihr Bild hängt so, daß er es ununterbrochen anschauen muß, wenn er auf seinem Lager ruht. Wüßte ich nicht genau, daß es ihn wütend machte, bestimmt würde ich ihn fragen, welche Bewandtnis es mit der Frau hat. Die anderen Dinge in seiner Kabine sind kaum der Erwähnung wert - Uniformröcke, ein einfacher Hocker, ein Vergrößerungsglas, eine Tabakdose und unzählige Pfeifen, darunter auch eine orientalische Wasserpfeife, vielleicht ein Hinweis darauf, daß er wirklich an dem Krieg teilgenommen hat, wie Mr. Milne erzählte, man weiß ja nie.
23.20 h - Nach einem langen und interessanten Gespräch über allgemeine Themen ist der Kapitän eben zu Bett gegangen. Wenn er will, kann er wirklich ein faszinierender, und charmanter Mann sein. Seine Belesenheit ist bemerkenswert, und die Art, wie er eine Meinung vertritt, ist stark, ohne überheblich zu sein. Ich hasse es nämlich, wenn mir jemand intellektuell auf die Füße tritt. Wir sprachen über die Natur der Seele, und er entwarf ein meisterliches Bild der Ansichten, die Aristoteles und Plato darüber hatten. Er scheint gleichermaßen der Theorie der Seelenwanderung wie der Denkweise des Pythagoras anzuhängen. Schließlich kamen wir zum modernen Spiritismus, ich macht einige scherzhafte Bemerkungen über Slade, worauf er mich eindringlich warnte, Propheten und Betrüger in einen Topf zu werfen. Er argumentierte, daß man das Christentum auch nicht als einen Irrweg brandmarken kann, nur weil Judas als Anhänger Christi ein Verräter wurde. Kurz darauf wünschte er mir eine gute Nacht und zog sich zurück.
Der Wind frischt auf und weht beständig von Norden. Die Nächte sind jetzt so dunkel wie in England. Ich hoffe, der morgige Tag wird uns von unseren eisigen Fesseln befreien.
17. SEPTEMBER - Schon wieder das Gespenst. Gott sei Dank habe ich starke Nerven! Der Aberglaube dieser armen Irren und die Geschichten, die sie voller Ernst und Überzeugung erzählen, würden jeden, der sie nicht kennt, in den Wahnsinn treiben. Es gibt viele Versionen der Geschehnisse der letzten Nacht, doch die Essenz von alldem ist, daß sich bis in den Morgen etwas Unsägliches beim Schiff herumgetrieben hat und daß nicht nur Sandy McDonald aus Peterhead und »der Lange« Peter Williamson es gesehen haben, sondern auch Mr. Milne von der Brücke aus. Das heißt, es gibt drei Zeugen, und die geben der Sache für die Mannschaft mehr Gewicht als vor ein paar Tagen der zweite Steuermann. Nach dem Frühstück habe ich mit Milne gesprochen und ihm gesagt, daß er eigentlich über diesem Unsinn stehen sollte und er als Offizier der Mannschaft ein Vorbild sein müsse. Er aber schüttelte nur seinen verwitterten Kopf und antwortete in seiner gewohnten bedächtigen Art.
»Vielleicht, Doktor, vielleicht auch nicht. Ich hab' nicht gesagt, daß es ein Geist war. Vielleicht würde ich keinen Schilling darauf verwetten, daß es Seeungeheuer und so was gibt, aber viele schwören Stein und Bein darauf. Ich bin nicht leicht zu erschrecken, obwohl Ihnen wahrscheinlich das Blut in den Adern gefroren wäre, hätten Sie letzte Nacht neben mir gestanden, Mann, und das Monstrum, weiß und riesengroß, husch-husch, mal hier, mal dort, wie ein verirrtes Kalb nach seiner Mutter schreien gehört. Jetzt, wo es hell ist, haben Sie leicht reden und können sagen: Altweiber-Gewäsch. So ist das.« Ich sah, daß es hoffnungslos war, mit ihm zu streiten, also hielt ich mich zurück und bat ihn lediglich, mich das nächste Mal zu wecken, wenn ein Gespenst erscheint, worauf er mich mit den inbrünstigsten Beschwörungen überschüttete, daß dieser Fall niemals eintreten möge.