Wie ich gehofft hatte, ist die weiße Wüste hinter uns aufgebrochen. Überall erscheinen jetzt dünne Wasseradern, die sie kreuz und quer zerschneiden. Unsere Position ist jetzt 80° 52' N. was zeigt, daß das Packeis schnell nach Süden driftet. Sollte der Wind günstig bleiben, so wird es sich so schnell auflösen, wie es entstanden ist. Im Augenblick können wir nur rauchen und warten und das Beste hoffen. Ich werde hier zum Fatalisten. Es bleibt mir sowieso nichts anderes übrig, wenn alles von so unsicheren Faktoren abhängt wie Wind und Eis. Vielleicht waren es der Wind und der Sand der arabischen Wüsten, die die ersten Jünger Mohammeds dazu trieben, sich dem Kismet zu ergeben.
Diese Geistererscheinungen haben eine sehr negative Wirkung auf den Kapitän. Ich fürchtete, sie könnten seine empfindlichen Nerven erschüttern und versuchte, die ganze Angelegenheit vor ihm zu verheimlichen, doch unglücklicherweise hörte er zufällig, wie die Leute davon sprachen und bestand darauf, informiert zu werden. Wie ich erwartet hatte, brachte es seine latente Geistesstörung wieder in einen akuten Zustand. Ich kann kaum fassen, daß dies derselbe Mann ist, mit dem ich gestern vollkommen rational über Philosophie diskutiert habe. Er läuft auf Deck herum wie ein Tiger im Käfig, ab und zu bleibt er stehen und schlägt stöhnend die Hände über dem Kopf zusammen, um dann unruhig aufs Eis hinaus zu starren. Er spricht ständig leise zu sich selbst, und einmal rief er aus, »noch ein bißchen Zeit, Liebe - gib mir noch ein bißchen Zeit!« Armer Kerl, es ist traurig, mitanzusehen, wie ein Mann von Welt, ein vollendeter Gentleman zu solch einem Wrack verkommt, traurig der Gedanke, daß Phantasie und Phantasterei einen Kopf zermürben können, für den früher die Gefahr nur das Salz des Lebens war. War je einer in meiner Lage, zwischen einem verwirrten Kapitän und einem ersten Offizier, der Gespenster sieht? Manchmal denke ich, ich bin der einzige Normale auf dem ganzen Schiff - ausgenommen vielleicht den zweiten Ingenieur, eine Art Wiederkäuer, den alle Teufel des Roten Meeres nicht schrecken könnten, solange sie seine Geräte in Ruhe lassen.
Immer noch löst sich das Eis, und aller Wahrscheinlichkeit nach können wir morgen früh versuchen, abzupfen. Zu Hause werden sie wohl denken, ich hätte all die Solchen erfunden, die mir passiert sind.
MITTERNACHT - Ich habe ganz schön gezittert, doch dank des Brandys fühle ich mich jetzt schon ruhiger. Trotzdem bin ich kaum mehr ich selbst, meine Handschrift wird es beweisen. Ich hatte ein eigenartiges Erlebnis, und ich beginne zu zweifeln, ob ich das Recht hatte, jeden an Bord als verrückt zu bezeichnen, nur weil er Behauptungen aufstellte, die ich nicht verstehen konnte. Ach, ich bin ein Narr, daß mich solch eine Lappalie aus der Fassung bringt, und dennoch, nach all den Geschichten von Mr. Manson und dem Steuermann, über die ich vorher noch gelacht habe, hat mein eigenes Erlebnis doch eine besondere Bedeutung. Die Geschichten waren wahr.
Eigentlich war es nichts - nur ein Geräusch, das war alles. Ich erwarte nicht, daß irgendjemand, der dies liest, wenn es ihn gibt, mit mir fühlen kann oder zu begreifen vermag, welche Wirkung, dieser Laut auf mich hatte. Nach dem Vesper war ich auf Deck gegangen, um vor dem Schlafengehen noch in Ruhe eine Pfeife zu rauchen. Die Nacht war sehr dunkel - so dunkel, daß ich vom Hauptdeck aus nicht den Mann auf der Brücke sehen konnte. Die außerordentliche Stille, die über dem Eismeer herrscht, habe ich sicher schon erwähnt.
In anderen Gegenden der Welt, mögen sie noch so öd und leer sein, liegt immer eine leichte Schwingung in der Luft - ein fernes Wispern, sei es vom Getriebe der Menschen, vom Laub, das leise raschelt, vom Flügelschlag ferner Vögel oder nur das Rauschen des Grases, das die Erde bedeckt. Wenn man die Geräusche auch nicht aktiv wahrnimmt, so wird man sie doch vermissen, wenn sie plötzlich verschwunden wären. Nur hier in den arktischen Gewässern umschließt dich diese dichte, undurchdringliche Stille mit all ihrer Grausamkeit. Die Trommelfelle beginnen nach dem leisesten Ton zu lechzen, der Sinn stürzt sich gierig auf jedes zufällige Geräusch an Bord. In dieser Situation stand ich über die Brüstung gebeugt, als direkt unter mir vom Eis ein scharfer, schriller Schrei ertönte, mitten in die stille Nachtluft, am Anfang so hoch, wie ihn keine Primadonna singen könnte, dann immer schriller, ein Schrei der Qual, vielleicht die letzte Klage einer verlorenen Seele. Das gräßliche Heulen klingt noch in meinen Ohren. Schmerz, unerträglicher Schmerz schien sich in ihm auszudrücken, großes Verlangen auch, und immer wieder ein Anflug von Frohlocken, wildem Jubel. Es schien von direkt neben mir zu kommen, und doch konnte ich nichts erkennen, als ich in die Dunkelheit starrte. Ich wartete einen Moment, ohne daß noch etwas passierte, und schließlich, tiefer erschüttert als je zuvor in meinem Leben, ging ich nach unten. Dort traf ich Mr. Milne, der auf dem Weg zur Wachablösung war. »Hallo, Doktor«, sagte er, »Altweibermärchen, nicht wahr? Haben Sie es kreischen gehört? Ist doch alles nur Aberglaube, oder? Was meinen Sie?« Ich fühlte mich verpflichtet, mich bei dem guten Mann zu entschuldigen und zuzugeben, daß ich genauso erschrocken war wie er. Vielleicht sehen die Dinge morgen schon anders aus, im Moment kann ich aber kaum zu Papier bringen, was mir alles durch den Kopf geht. Wahrscheinlich werde ich mich selbst für meine Schwäche verachten, wenn alles vorbei ist und ich diese Zeilen lese.
18. SEPTEMBER - Ich habe eine schlimme, ruhelose Nacht hinter mir, in der mich das unheimliche Geräusch ständig verfolgte. Der Kapitän scheint auch nicht viel Schlaf bekommen zu haben, denn sein Gesicht ist eingefallen und seine Augen blutunterlaufen. Ich habe ihm nichts von meinem nächtlichen Abenteuer erzählt, habe auch nicht die Absicht, dies zu tun. Er ist ohnehin ruhelos und verstört, er kann einfach nicht mehr stillsitzen.
Wie ich erwartet hatte, erschien heute morgen eine schmale Gasse im Packeis, und wir konnten den Eisanker lichten. Wir waren schon zwölf Meilen Richtung Süd-Südwest gefahren, als wir von einem Eisfeld aufgehalten wurden, das mindestens so massiv war wie das, dem wir eben entkommen waren. Wir liegen wieder fest, und es bleibt uns nichts übrig, als zu ankern und zu warten, bis wir wieder freikommen, was wahrscheinlich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden geschehen wird, wenn der Wind sich hält. Zahlreiche plattnasige Robben schwimmen um uns herum; diese grimmigen, kampflustigen Tiere können sogar einem Bären große Schwierigkeiten bereiten, doch zum Glück sind sie auf dem Eis langsam und schwerfällig, so daß man sie dort gefahrlos angreifen kann.
Der Kapitän ist offensichtlich nicht der Meinung, daß wir schon alle Schwierigkeiten überwunden haben, obwohl ich nicht begreifen kann, warum er unsere Situation noch so kritisch sieht, denn jeder andere an Bord glaubt, wir seien schon auf wunderbare Weise gerettet, und ist sicher, daß wir bald die offene See erreichen werden.
»Ich nehme an, Sie denken, jetzt ist alles in Ordnung, Doktor?« sagte er nach dem Essen zu mir.
»Ich hoffe es«, antwortete ich.
»Wir dürfen nicht zu sicher sein - trotzdem, Sie haben bestimmt recht. Nicht mehr lange, und wir alle werden unsere Lieben in die Arme schließen können, nicht wahr, mein Junge?
Aber wir dürfen uns nicht zu sicher fühlen - das dürfen wir nicht.«
Ex hielt eine Weile inne und rückte seinen Stuhl zurecht. »Schauen Sie«, fuhr er fort, »dies ist ein gefährlicher Ort, wenn der Wind auch noch so günstig ist - ein hinterhältiger, gefährlicher Ort. Ich habe Männer gekannt, die in einer Gegend wie dieser plötzlich verschwanden. Ein Ausrutscher kann schon reichen - Sie rutschen nur einmal aus und verschwinden zwischen den Eisschollen. Das einzige, was von ihnen übrigbleibt, sind ein paar Luftblasen dort, wo Sie versunken sind.«