20. SEPTEMBER, abends - Heute morgen bin ich mit einer kleinen Gruppe Richtung Süden und Mr. Milne nach Norden gegangen. Wir kämpften uns zehn oder zwölf Meilen vor, ohne auch nur die Spur eines Lebewesens zu entdecken, abgesehen von einem einzigen Vogel, der einige Zeit über unseren Köpfen kreiste, nach seiner Flugweise zu urteilen wahrscheinlich ein Falke. Im Süden lief das Eisfeld in eine lange Spitze aus, die im Meer verschwand. Als wir die Basis dieses äußersten schmalen Dreiecks erreichten, blieben die Männer stehen, doch ich flehte sie an, bis ans Ende weiterzugehen, um wenigstens ganz sicher zu sein, daß wir alles versucht haben.
Nach kaum hundert Metern rief McDonald, da wäre etwas und begann zu laufen. Jetzt sahen wir es alle und folgten ihm. Zuerst war es nur ein dunkler Fleck auf dem Eis, doch als wir näher kamen, erkannten wir die Umrisse eines Körpers, vielleicht des Mannes, den wir suchten. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf einer Eisscholle. Viele kleine Eiskristalle und Schneeflocken bedeckten seine dunkle Seemannsjacke. Als wir direkt neben ihm standen, kam ein kleiner, wandernder Luftwirbel, erfaßte diese Flocken und schleuderte sie hoch, hielt noch kurz inne, um dann Richtung offene See zu entschweben. In meinen Augen nichts anderes als eine gewöhnliche Schneeverwehung, doch viele meiner Kameraden waren sicher, daß sie die Form einer Frau hatte, die den Leichnam küßte und dann über das Eis verschwand. Ich habe gelernt, mich über niemanden mehr lustig zu machen, mag er auch noch so seltsame Dinge erzählen. Fest steht, daß Kapitän Craigie einen leichten Tod gestorben ist, denn auf seinem blau gefrorenen Gesicht stand ein strahlendes Lächeln, und seine Hände streckten sich immer noch dem unbekannten Boten entgegen, der ihn in die dämmrige Welt abberufen hat, die hinter dem Tode liegt.
Wir bestatteten ihn noch am selben Nachmittag in der Flagge des Schiffes und feuerten einen Dreißigpfünder zu seinen Ehren ab. Ich hielt die Grabrede, während die wilden Seemänner wie Kinder weinten, denn viele von ihnen hatten seiner Güte einiges zu verdanken und konnten ihm jetzt erst ihre Zuneigung zeigen, wovor sie sich zu seinen Lebzeiten wegen seiner eigensinnigen Art immer gescheut hatten. Mit einem dumpfen Klatschen ging er schließlich von uns, und als ich ins grüne Wasser schaute, sah ich ihn versinken, tiefer und immer tiefer, bis er nur noch ein weiß flackernder Fleck in ewiger Finsternis war. Dann war gar nichts mehr zu sehen, er war verschwunden. Dort liegt er jetzt, sein Geheimnis und all sein Schmerz sind immer noch in seiner Brust begraben, bis er eines Tages vielleicht aus dem Eis wieder auftaucht mit seinem Lächeln und seinen steifen, zur Begrüßung ausgestreckten Armen. Ich bete für ihn, er möge in jenem Leben glücklicher sein, als er es in diesem war.
Ich werde hiermit mein Tagebuch abschließen. Der Heimweg liegt klar und offen vor uns, und das große Eisfeld wird bald nicht mehr sein als eine zwielichtige Erinnerung an vergangene Abenteuer. Ich werde einige Zeit brauchen, bis ich den Schock überwunden haben werde, den mir die vergangenen Ereignisse zugefügt haben. Als ich anfing, dieses Reisetagebuch zu führen, ahnte ich nicht, daß es so enden würde. Diese letzten Worte schreibe ich in der einsamen Kajüte, manchmal schrecke ich noch auf und meine, die schnellen, hastigen Schritte des Kapitäns auf Deck über mir zu hören. Heute abend bin ich in seiner Kabine gewesen, wie es meine Pflicht war, um für das offizielle Logbuch eine Liste seiner Habseligkeiten aufzustellen. Alles war noch, wie ich es vorher schon gesehen hatte, nur das Bild, das ich beschrieben habe, welches am Fußende seines Bettes hing, war wie mit einem Messer aus dem Rahmen geschnitten und verschwunden. Mit diesem letzten Glied in einer Kette der Beweise für das Unfaßbare schließe ich das Tagebuch der Fahrt der Polestar.
(ANMERKUNG von Dr. John M'Alister Ray Senior - Ich habe die Aufzeichnungen meines Sohnes über die seltsamen Umstände des Todes des Kapitäns der Polestar durchgelesen und bin der festen Überzeugung, daß sich alles genau so zugetragen hat, wie er es darstellt, ja, ich bin mir dessen sogar absolut sicher, denn ich kenne meinen Sohn als einen konsequenten Rationalisten mit starken Nerven, der absolut nicht zur Aufschneiderei neigt. Dennoch war ich lange gegen die Veröffentlichung dieser Geschichte, da sie auf den ersten Blick absolut unwahrscheinlich und unglaublich wirkt. Seit einigen Tagen verfüge ich jedoch über eine Aussage von unabhängiger Seite, die ein neues Licht auf die Angelegenheit wirft. Als ich in Edinburgh weilte, um an der Tagung des britischen Ärzteverbandes teilzunehmen, traf ich zufällig Dr. E... einen alten Studienkollegen, der jetzt in Saltash, Devonshire, praktiziert. Nachdem ich ihm von den Erlebnissen meines Sohnes erzählt hatte, erklärte er mir, daß er den Mann, um den es geht, gut kannte; zu meiner größten Überraschung beschrieb er ihn mir genau so, wie ich ihn aus dem Tagebuch meines Sohnes kenne, nur das Alter war ein anderes. Nach seiner Schilderung war er mit einer jungen Lady von außergewöhnlicher Schönheit verlobt, die an der Küste von Cornwall lebte. Während Craigies Abwesenheit auf See kam sie unter besonders schrecklichen Umständen zu Tode.)
»Lot No. 249«
(Lot No. 249)
Mit letzter Sicherheit wird man wohl nie erfahren, was zwischen Edward Bellingham und William Monkhouse Lee geschah und was das Grauen ausgelöst hat, das Abercrombie Smith widerfuhr. Wir können uns nur auf seinen eigenen, ausführlichen Bericht stützen und auf die Aussagen des Dieners Thomas Styles und des Pastors Plumptree Peterson und eben solcher Leute, die zufällig einen kleinen Teil dieser unglaublichen Kette von Ereignissen bezeugen können. Im wesentlichen müssen wir uns allein auf Smith verlassen, und die meisten von Ihnen halten es sicherlich für wahrscheinlicher, daß auch ein noch so klares Gehirn einmal seinen kleinen Fehlem und Schwächen unterliegen kann, als daß an einem Ort der Wissenschaft, wie ihn die Universität von Oxford zweifellos darstellt, in so flagranter Weise grundlegende Naturgesetze verletzt werden konnten. Wenn wir jedoch bedenken, wie schwach das Licht ist, mit dem unsere Wissenschaft den unüberschaubaren Raum dieser Gesetze beleuchten kann, wie in allen Winkeln Irrtümer wie Irrlichter aufblitzen und uns für lange Zeit erblinden lassen können, so hieße es, die Augen freiwillig zu verschließen, wenn wir jedes unerwartete Ereignis kurzerhand und nur scheinbar skeptisch als Halluzination abtäten.
An einem Flügel der Universitätsgebäude gibt es ein Ecktürmchen, das besonders alt sein soll. Der schwere Steinbogen, der seinen offenen Eingang überspannt, scheint nur noch von dem Netz aus Flechten und Efeuranken, die ihn überwuchern, vor dem Zusammenstürzen bewahrt zu werden. Von der Tür windet sich über zwei Absätze eine grobe Steintreppe nach oben, deren Stufen von Generationen wissensdurstiger Studenten ganz rund und formlos getreten sind, wie Steine in einem Flußbett, die die Zeit rundgeschliffen hat. Was mag heute noch übrig sein von all dem jungen, englischen Leben, all den Hoffnungen und Anstrengungen, die dieser Turm seit den Tagen der Plantagenets gesehen haben mag? Ein paar unleserliche Kerben auf irgendwelchen verwitterten Grabsteinen, vielleicht noch eine Handvoll Staub unter modrigen Sargresten, und eben auch diese abgetretenen Stufen, diese grauen Mauern, die in ihrer eigenen Sprache von vergangenen Zeiten künden.