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Im Monat Mai des Jahres 1884 bewohnten drei junge Männer die kleinen Zimmer, jeweils ein Schlafraum und ein Wohnraum, die in dem Turm für Studenten zur Verfügung standen. Zu ebener Erde wohnte der Diener oder Bursche, Thomas Styles, der für die drei jungen Herren über ihm zu sorgen hatte. Unter den fleißigeren Kandidaten erfreuten sich diese Räume einer gewissen Beliebtheit, da man sich dort, umgeben von Hörsälen und Bibliotheken, gut zur Klausur zurückziehen konnte. Zu diesen Kandidaten zählten auch die drei, die nun dort wohnten - in der Turmspitze Abercrombie Smith, eine Treppe tiefer Edward Bellingham, und im ersten Stock William Monkhouse Lee.

Es war zehn Uhr, ein strahlender, blauer Frühlingsabend war zu Ende gegangen. Abercrombie Smith saß in seinem Lehnstuhl vor dem Kamin und rauchte schweigend seine Bruyerepfeife. Ihm gegenüber saß genauso entspannt in einem ganz ähnlichen Sessel sein alter Schulfreund Jefferson Hastie. Beide trugen noch Wolljacken, denn sie hatten den Abend am Fluß verbracht, zwei Naturburschen mit frischen, klaren Gesichtern, denen man ansah, daß sie stets für das Männliche und Starke waren. Hastie war denn auch Schlagmann seines College-Bootes, und Smith war ein ebenso starker Ruderer, doch ein bevorstehendes Examen warf schon seinen Schatten voraus und fesselte ihn an seine Bücher, bis auf die wenigen Stunden in der Woche, die er seiner Gesundheit schuldig zu sein glaubte. Die medizinischen Bücher auf seinem Tisch sowie verstreute Knochen und Gipsmodelle und anatomische Tafeln wiesen auf Art und Umfang seiner Studien hin, während die Ruder und ein Paar Boxhandschuhe an der Wand jedem, der das Zimmer betrat, zeigten, womit er sich in Form hielt: stark und männlich. Und Hastie half ihm dabei. Sie kannten sich sehr gut - so gut, daß sie oft, wie auch an diesem Abend, schweigend zusammensitzen konnten. Weiter kann sich eine Freundschaft nicht entwickeln.

»Ich habe noch Whisky«, sagte Abercrombie Smith zwischen zwei Rauchwolken. »Scotch in dem Krug und Irischen in der Flasche.«

»Nein danke. Wir haben bald ein Rennen. Kein Schnaps während des Trainings! Wie steht es mit dir?«

»Ich muß noch sehr viel lesen. Ich glaube, ich trinke besser auch nichts.«

Hastie nickte, die beiden fielen wieder in ihr zufriedenes Schweigen.

»Übrigens«, fragte Hastie plötzlich, »,hast du inzwischen einen der Jungs, die unter dir wohnen, kennengelernt?«

»Mehr als ein >Guten Tag< war bisher noch nicht drin.«

»Hm! Vielleicht ist es am besten so. Ich kenne die beiden zwar nicht gut, aber mir reicht es. An deiner Stelle würde ich sie nicht gerade an meine Brust drücken. Nichts gegen Monkhouse Lee, aber.«

»Du meinst den Schmächtigen?«

»Genau; er ist ein feiner kleiner Kerl, ich glaube schon, er ist in Ordnung. Doch er ist ständig mit Bellingham zusammen.«

»Das ist also der Dicke.«

»Genau, und den möchte ich lieber nicht kennen.«

Abercrombie Smith sah seinen Kameraden neugierig an.

»Was ist denn mit ihm los?« fragte er. »Trinkt er? Oder ist er ein Spieler, ein Schuft? Du bist doch sonst nicht so kritisch.«

»Ach, du kennst ihn eben nicht, sonst würdest du nicht so fragen. Er hat etwas an sich - wie eine Kröte. Mein Ekel vor ihm wird immer größer. Für mich ist er ein richtig ekelhafter kleiner Verklemmter, obwohl er kein Idiot zu sein scheint. In seinen Fächern soll er sogar einer der besten sein, die das College jemals hatte.«

»Medizin oder Philologie?«

»Orientalische Sprachen. Er ist ein wahrer Teufel auf dem Gebiet. Chillingworth traf ihn in den letzten Ferien irgendwo am Nil, wie er mit den Arabern sprach, als sei er einer von ihnen oder zumindest unter ihnen aufgewachsen. Er sprach koptisch mit den Kopten, hebräisch mit den Juden und arabisch zu den Beduinen, und alle hätten ihm am liebsten den Rocksaum geküßt, sogar die Typen, die sonst nur auf Steinen hocken und jeden Fremden, der vorbeikommt, mit den Blicken töten wollen und vor ihm ausspucken. Doch als sie diesen Bellingham sahen, wälzten sie sich vor ihm im Staub, bevor er fünf Worte ausgesprochen hatte. Chillingworth erzählte, daß er so etwas noch nie erlebt hätte. Und für Bellingham schien es ganz selbstverständlich zu sein, zwischen ihnen herumzustolzieren und sie zu behandeln, als seien sie seine Sklaven. Ganz gut für einen Studenten, nicht wahr?«

»Du sagtest, man könne an Lee nicht herankommen, ohne auch mit Bellingham zu tun zu bekommen; wieso?«

»Weil Bellingham mit Lees Schwester Evelyn verlobt ist. Sie ist ein so hübsches, fröhliches Mädchen! Ich kenne die ganze Familie sehr gut, und ich finde es furchtbar, mitansehen zu müssenA wie sie sich mit dieser Kröte abgibt. Die Kröte und die Taube, daran erinnern mich die beiden immer.«

Smith grinste und klopfte seine Pfeife am Kaminsims aus.

»Ich habe dich durchschaut, Alter«, sagte er, »das Ganze liegt einfach zu klar auf der Hand, Bellingham würde dich gar nicht stören, wenn er nicht zufällig mit Evelyn verlobt wäre.« .

»Naja, ich kenne sie von klein auf, und ich will nicht, daß sie ein Risiko eingeht; das tut sie bestimmt. Er sieht einfach unheimlich aus. Und er hat unheimliche, gefährliche Launen. Erinnerst du dich an seinen Streit mit dem langen Norton?«

»Nein; du vergißt immer, daß ich noch nicht solange hier bin.«

»Ach ja, es war im letzten Winter. Aber du kennst sicher den schmalen Pfad unten am Fluß. Ein paar Studenten, Bellingham vorne weg, gingen in die eine Richtung, aus der anderen kam ihnen eine alte Marktfrau entgegen. Es hatte geregnet, du weißt, was das dort unten heißt, der Weg ist sehr schmal und ringsherum nichts als Schlamm und Pfützen. Doch was tut dieses Schwein Bellingham? Er bleibt auf dem Weg und stößt die Alte mit all ihrem Plunder in den Schmutz. Es war eine wirklich gemeine Szene, und Norton wurde so wütend, daß er Bellingham ins Gesicht sagte, was er davon hielt. Ein Wort gab das andere, und die beiden hätten sich fast geprügelt, es war ein Riesenärger. Du mußt mal sehen, wie Bellingham Norton anschaut, wenn er ihm heute einmal über den Weg läuft, es ist wirklich furchterregend. Himmel, es ist ja schon elf Uhr!«

»Keine Eile! Zünde dir deine Pfeife ruhig wieder an.«

»Das geht nicht, ich bin doch im Training und sollte eigentlich schon längst im Bett sein. Und was tu ich statt dessen? Ich sitze hier und schwätze. Ich nehme deinen Schädel mit, wenn du ihn im Moment nicht brauchst. Meiner liegt schon seit einem Monat bei Williams. Du könntest mir auch die Ohrknöchelchen borgen, aber nur, wenn du sie wirklich nicht brauchst. Vielen Dank. Eine Tasche brauche ich nicht, ich nehme das Zeug unter den Arm. Gute Nacht, mein Sohn, und denke daran, was ich dir über deinen Nachbarn erzählt habe.«

Als Hastie mit seinem Anatomiekram verschwunden war, leerte Abercrombie Smith seine Pfeife in den Papierkorb, schob seinen Sessel näher zur Lampe und griff nach einem prächtigen, grün eingebundenen Wälzer, der all die großen, bunten anatomischen Karten enthielt, Karten eines Landes, dessen macht- und hilflose Könige wir sind. Wenn er auch in Oxford erst angefangen hatte, als Mediziner war er schon fortgeschritten, denn er hatte vier Jahre in Glasgow und Berlin gearbeitet, und nach seiner nächsten Prüfung würde er als fertiger Arzt dastehen. Der entschlossene Mund, die breite Stirn und das klar geschnittene, etwas harte Gesicht ließen sofort vermuten, daß er zäh und geduldig genug war, auch ohne brillantes Talent manchen glänzenden Kopf am Ende in den Schatten stellen zu können. Ein Mann, der sich unter Schotten und Preußen behaupten kann, läßt sich nicht so leicht in die Ecke stellen. Smith hatte sich in Glasgow und Berlin einen guten Namen geschaffen, und jetzt wollte er in Oxford soviel erreichen, wie mit Fleiß und Engagement möglich war.

Er hatte etwa eine Stunde gelesen, die Zeiger seines geräuschvollen Reiseweckers würden sich bald auf der Zwölf treffen, als ein seltsames Geräusch ihn aufschreckte - ein lautes, fast schrilles Geräusch, wie ein gequältes, schmerzvolles Stöhnen. Smith ließ das Buch sinken und spitzte die Ohren. Links und rechts nebenan war nichts, das Geräusch konnte nur von seinem Nachbarn unter ihm kommen -demselben Bellingham, von dem sein Freund ein so ungünstiges Bild gezeichnet hatte. Smith kannte ihn nur als einen schwabbeligen, blassen Kerl, der ganz in seinen Studien aufzugehen schien; oft brannte bei ihm sogar noch Licht, wenn ringsherum schon längst alle schlafen gegangen waren. Dadurch fühlte sich Smith ihm irgendwie verbunden, denn auch er studierte oft bis tief in die Nacht. Es beruhigte ihn, zu wissen, daß ganz in der Nähe noch jemand war, dem seine Arbeit so wichtig war, daß er den Schlaf darüber vergaß. Sogar jetzt waren seine Gedanken an ihn noch freundlich. Hastie war ein guter Kumpel, doch er war auch ziemlich grobgestrickt und hatte wenig Phantasie. Abweichungen von seinem Idealbild reiner Männlichkeit konnte er nicht ertragen. Fiel einmal ein Student ein wenig aus der Reihe seiner frisch gewaschenen, sportlichen Kommilitonen, so war er Hastie gleich suspekt. Wie viele Sportler neigte er dazu, die körperliche Erscheinung eines Menschen mit seinem Charakter zu verwechseln. Smith kannte diesen Fehler seines Freundes sehr wohl und war sich dessen bewußt, als er jetzt an seinen Nachbarn dachte.