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Smith wollte sich gerade wieder an die Arbeit machen, als ein Schrei die Stille der Nacht durchbrach - eindeutig der Schrei eines verzweifelten Menschen, der alle Selbstkontrolle aufgegeben hatte. Smith war mit einem Sprung aus seinem Sessel und legte sein Buch beiseite. Er hatte starke Nerven, doch in diesem ungehemmten Schreckensschrei war etwas, das das Blut in seinen Adern erstarren und seine Haare zu Berge stehen ließ. Zu dieser Stunde, an diesem Ort kamen ihm sofort tausend unglaubliche Ideen in den Kopf. Sollte er schnell hinunterlaufen und nachsehen, oder sollte er lieber abwarten? Wie alle Engländer haßte er jede Art unnötigen Aufsehens, er kannte seinen Nachbarn kaum und scheute davor zurück, sich in dessen Angelegenheiten zu mischen. Er schwankte immer noch zwischen Hilfsbereitschaft und Zurückhaltung, als der junge Monkhouse Lee, halb angezogen und aschfahl im Gesicht, die Treppe heraufgestürzt kam und seine Tür aufriß.

»Kommen Sie herunter!« keuchte er. »Bellingham ist krank.«

Sie gingen zusammen ein Stockwerk tiefer, wo Bellingham seine zwei Zimmer hatte, und als sie über dessen Schwelle traten, blieb Abercrombie Smith nichts anderes übrig, als seinen Blick durch die fremde Behausung schweifen zu lassen. Ein solches Zimmer hatte er noch nie gesehen - es war eher ein Museum als eine Studierstube. Wände und Decke waren über und über bedeckt mit Erinnerungsstücken aus dem Orient, aus Ägypten. Auf einem Fries marschierten hohe, kantige, schwer bewaffnete Gestalten in einem wunderlichen Reigen um das Zimmer herum, das mit storchen-, stier-, katzen- oder eulenköpfigen Statuetten, mit käferhaften ägyptischen Lapislazuli-Gottheiten bis an die Decke gefüllt war. Aus jeder Nische, von jedem Regal starrten ihn Horus und Isis und Osiris an, und mitten im Raum hing ein wahrer Sohn des Nils, ein riesiges Krokodil, in zwei Schlingen von der Decke.

In der Mitte der Kammer stand ein quadratischer Tisch, der mit Papieren, Flaschen und getrockneten Blättern einer palmähnlichen, zierlichen Pflanze beladen war. Alles war zu einem großen Haufen zusammengeschoben worden, um Platz zu schaffen für einen Mumiensarg, der vorher offensichtlich seinen Platz an einer Wand hatte und jetzt quer über dem Tisch lag. Die Mumie, ein abstoßendes, schwarz verschrumpeltes Etwas, das seinen Kopf vielleicht in einen brennenden Busch gehalten hatte, hing halb aus ihrer Kiste heraus, ihre krallige Hand und der knochige Unterarm ruhten auf der Tischplatte. Daneben lag eine alte, vergilbte Papyrusrolle, und davor saß auf einem kleinen Holzthron der Inhaber des Zimmers; sein Kopf hing nach hinten über die Lehne, die weit aufgerissenen Augen waren erschrocken auf das Krokodil fixiert, und durch die dicken blauen Lippen kamen vereinzelte, röchelnde Atemstöße.

»Mein Gott, er stirbt!« schrie Monkhouse Lee.

Er war ein schlanker, hübscher Junge mit olivfarbener Haut und dunklen Augen, eher ein spanischer als ein englischer Typ. Seine keltische Impulsivität stand in scharfem Kontrast zum echt sächsischen Phlegma des Abercrombie Smith.

»Es ist nur ein Schock, glaube ich«, sagte der Medizinstudent.

»Auf das Sofa mit ihm. Packen Sie seine Füße. Können Sie vielleicht die kleinen Holzteufel dort beiseite schaffen? Welche Unordnung! Es wird ihm sofort bessergehen, wenn wir seinen Kragen öffnen und ihm etwas Wasser geben. Was ist eigentlich passiert?«

»Ich weiß nicht. Ich hörte ihn schreien. Ich lief hinauf. Ich kenne ihn sehr gut, wissen Sie. Es war sehr nett von Ihnen, herunterzukommen.«

»Sein Herz hört sich an wie eine Kinderrassel.« Smith hatte sein Ohr an die Brust des bewußtlosen Bellingham gelegt.

»Ich glaube, irgend etwas hat ihn fast zu Tode erschreckt. Spritzen Sie ihm etwas Wasser ins Gesicht. Oh, dieses Gesicht überhaupt!«

Es war ein seltsames, ein wirklich abstoßendes Gesicht, unnatürlich sowohl in Farbe als auch in den Konturen. Es war weiß, nicht einfach vor Angst erblaßt, sondern blutleer weiß wie weißes Wachs. Er war sehr fett, doch er schien früher noch fetter gewesen zu sein, denn seine Haut hing in Säcken und Falten an ihm herab. Seinen mit struppigem, braunem Kurzhaar geschmückten Schädel zierten seitlich zwei kleine, fette Schweineohren. Seine hellgrauen Augen waren immer noch offen, krampfhaft unbeweglich mit erweiterten Pupillen. Smith schien es, als wolle die Natur mit dem Zustand dieses Mannes ein Warnzeichen setzen: Bis hierher und nicht weiter. Und ihm begann zu dämmern, wie ernst es Hastie vor einer Stunde mit seinen Worten gewesen war.

»Was zum Henker kann ihn so erschreckt haben?« fragte er.

»Die Mumie.«

»Die Mumie? - Wieso?«

»Ich weiß nicht. Sie ist unheimlich und böse. Ich wünschte, er würde sie zerstören. Dies ist schon das zweite Mal, daß er mich so erschreckt. Letzten Winter war es dasselbe. Ich fand ihn in genau demselben Zustand, und er war mit derselben schrecklichen Sache beschäftigt.«

»Was hat er mit der Mumie vor?«

»Oh, er ist ein Fanatiker in diesen Sachen. Er weiß mehr darüber als irgendwer sonst in England. Doch ich wollte, es wäre nicht so! Ah, er kommt zu sich!«

Blasses Rosa hatte sich auf Bellinghams speckige Wangen zurückgeschlichen, seine Augenlider flatterten wie Segel im Wind. Mit einem langen, pfeifenden Atemzug füllte er seine Lungen, dann hob er ruckartig den Kopf und warf einen ersten, prüfenden Blick in die Runde. Als sein Auge auf die Mumie fiel, sprang er auf, raffte die Papyrusrolle zusammen, stopfte sie in eine Schublade, drehte den Schlüssel und stolperte zurück auf das Sofa.

»Was gibt's?« fragte er. »Was wollt ihr, Jungs?«

»Du hast geschrien und dich angestellt wie eine Leiche«, sagte Monkhouse Lee. »Wenn unser Nachbar nicht so freundlich gewesen wäre, herunterzukommen, hätte ich gar nicht gewußt, was ich mit dir machen sollte.«

»Aha, Sie sind also Abercrombie Smith.« Bellingham sah ihn an. »Sehr gut, daß Sie gekommen sind. Was bin ich doch für ein Narr! Mein Gott, ich bin ein Idiot!«

Er schlug die Hände vors Gesicht und verfiel in stoßartiges, hysterisches Gelächter.

Smith schrie ihn an und schüttelte ihn. - »Wachen Sie auf! Sie müssen aufhören! Ihre Nerven hängen in Fetzen. Sie müssen Schluß machen mit Ihren mitternächtlichen Mumienspielchen, oder Sie werden noch total verrückt. Sie sind auf dem besten Weg dahin!«

Bellingham hörte auf zu lachen. »Ich glaube nicht, daß Sie noch so ruhig wären wie ich, wenn Sie gesehen hätten, was.«

»Was denn?«

»Ach, nichts. Ich wollte sagen, daß Sie wahrscheinlich auch nicht nachts mit einer Mumie zusammenhocken könnten, ohne nervös zu werden. Aber Sie haben recht. Ich habe es bestimmt zu weit getrieben, doch es geht mir schon wieder besser. Bitte gehen Sie jetzt nicht. Bleiben Sie noch ein paar Minuten, bis ich wieder ganz ich selbst bin.«