Der junge Ritter folgte der Straße eine Weile und kauerte sich dann in einen dunklen Hauseingang, um zu warten. Aus keinem der Fenster ringsherum fiel Licht. Mit klopfendem Herzen lauschte Golo, ob ihm jemand folgte. Doch außer dem Fauchen zweier streitender Katzen war nichts zu hören. Als Golo ganz sicher war, daß niemand mehr kommen würde, verließ er sein Versteck. Es war so finster, daß man kaum zwei Schritt weit sehen konnte. Um nicht zu stolpern, tastete er sich an den Wänden der Häuser entlang.
Einmal kreuzte ein Trupp Soldaten eine Seitenstraße. Golo hörte ihren Marschtritt schon von weitem und versteckte sich in den Ruinen eines ausgebrannten Hauses. Die Krieger zogen vorüber, ohne ihn zu bemerken. Es waren acht Mann. Drei von ihnen trugen Fackeln. Eine ungewöhnlich starke Streife für eine Stadt, die nicht belagert wurde. Wovor fürchtete Ricchar sich, wenn er so viele Männer zum Wachdienst befahl? Ob der Diener ihm diese Frage beantworten würde?
Golo wartete, bis die Soldaten außer Sicht waren, und eilte dann, so schnell es in der Dunkelheit ging, den Thermen entgegen. Das verfallene Bad mußte einst so groß wie ein Palast gewesen sein. Vorsichtig tastete sich der junge Krieger die bröckelnden Marmorstufen hinauf. Ein gewölbter Gang führte auf den Innenhof des Gemäuers. Plötzlich bemerkte er in einer Nische einen Mann, der zu ihm herüberstarrte. Golo drückte sich mit dem Rücken zur Wand und zog seinen Dolch.
»Wer da?«
Es kam keine Antwort. War er in eine Falle getappt? Golo duckte sich leicht, bereit, den anderen anzuspringen, sobald er sich bewegte. Der Kerl schien allein zu sein. Etliche Herzschläge lang musterten die beiden schweigend einander.
»Bist du ein Gefolgsmann des Grafen?«
Nichts. Was wollte der Kerl? Warum redete er nicht? Worauf wartete er nur? Golo war es leid. Er hob den Dolch und machte einen Schritt nach vorne. In dem Moment trat der Mond hinter den Wolken hervor. Ein breiter Streifen silbernen Lichts fiel in den Gewölbegang, und Golo erkannte, wen er belauert hatte. Mit einem erleichterten Lachen schob er den Dolch in seinen Gürtel zurück. Es war eine Statue! Das Bildnis eines Kriegers in einer seltsamen Rüstung. Der Soldat trug einen Brustpanzer, der wie die Muskeln eines kräftigen Mannes geformt war, und ein breiter Umhang fiel von seinen Schultern.
Das Gerede des Dieners hat mich schon völlig durcheinandergebracht, dachte Golo ein wenig ärgerlich und setzte seinen Weg fort. Nach zehn Schritten mündete der Durchgang auf einen großen gepflasterten Hof. Nur undeutlich konnte er im schwindenden Mondlicht die Ruinen der angrenzenden Gebäudeflügel erkennen. Das Badehaus mußte einst riesig gewesen sein. Jetzt war der Prachtbau fast vollständig verfallen.
Mit zusammengekniffenen Augen spähte Golo in die Finsternis. Auf der rechten Seite des Hofes schien es drei nebeneinanderliegende niedrige Gewölbebögen zu geben. Vorsichtig schlich er über den mit Trümmern übersäten Platz. Endlich erreichte er den mittleren Bogen, doch der Diener aus dem Palast war nicht dort. Golo überlegte, ob er vielleicht zu früh war. Vielleicht war sein rätselhafter Freund auch aufgehalten worden. Mit einem resignierenden Seufzer ließ sich der junge Ritter, an die Gewölbewand gelehnt zu Boden sinken. Doch kaum, daß er saß, war er mit einem leisen Fluch auch wieder auf den Beinen. Der Boden war feucht. Vom letzten Regen hatte sich wohl eine kleine Pfütze gesammelt, die durch die Hitze des Tages fast völlig ausgetrocknet sein mußte.
Ärgerlich ging Golo unter dem Torbogen auf und ab. Hin und wieder verharrte er eine Weile und sah den treibenden Wolken am Himmel zu. Wo Volker jetzt wohl war? Womöglich war die ganze Geschichte mit dem Diener auch nur eine Intrige, die Ricchar ersonnen hatte, um herauszufinden, ob er mit Verrätern paktieren würde. Golo ballte die Fäuste! Und er war natürlich dumm genug, darauf hereinzufallen! Es reichte! Nach seiner Schätzung hatte er jetzt mindestens eine halbe Stunde gewartet. Der Kerl würde bestimmt nicht mehr kommen. Es war an der Zeit in den Palast zurückzukehren.
Wenn er daran dachte, was mit ihm geschehen würde, wenn er tatsächlich auf eine Intrige des Grafen hereingefallen war, wurde Golo ganz übel. Die Franken waren berüchtigt für ihre grausamen Hinrichtungen. Sie begnügten sich fast nie damit, einem Verurteilten einfach nur den Kopf abzuschlagen oder ihn zu erhängen. Vierteilen, aufs Rad flechten oder einem mit glühenden Zangen das Fleisch vom Leib reißen, das waren nur einige der widerlichen Todesarten, die sie für ihre Feinde parat hatten. Golo schauderte. Warum nur hatte er sich darauf eingelassen, in diese verfluchten Bäder zu kommen. Er kannte den Mann ja nicht einmal richtig, der ihn hierherbestellt hatte. Er gehörte geohrfeigt für seine Dummheit!
Einen Moment lang überlegte der junge Ritter, ob er nicht am besten gleich zu den Ställen schleichen sollte, um sich sein Pferd zu holen und zu türmen. Doch dann dachte er an Volker. Was sie dem Sänger wohl antun würden, wenn er sich einfach aus dem Staub machte? Dem Grafen war zuzutrauen, daß er seine Wut womöglich am Spielmann ausließ. Das konnte er nicht zulassen!
Mit gemischten Gefühlen überquerte Golo den großen Platz vor dem Palast. Schon von weitem konnte er die Torwachen erkennen. Es waren vier Mann, die unter dem Säulengang standen. Neben ihnen steckten in eisernen Halterungen einige Fackeln an der Wand. Sie tauchten den Eingang zum Palast in flackerndes gelbes Licht.
Golo straffte sich. Er sollte sich nichts anmerken lassen! Mit langen Schritten hielt er auf den Eingang zu und passierte. Die Männer musterten ihn knapp. Keiner machte Anstalten, ihn aufzuhalten. Er hatte Glück gehabt! Die Intrige und all seine dunklen Gedanken waren nichts als Hirngespinste! Vielleicht tat er dem Grafen Ricchar unrecht, wenn er so schlecht von ihm dachte.
Auch auf dem kleinen Innenhof, der ein Stück hinter dem Eingang lag, standen Wachen. Golo grüßte im Vorbeigehen und hielt dann auf sein Zimmer zu. Fast hatte er die Tür schon erreicht, als er hinter sich eilige Schritte hörte. Jetzt nur nicht umdrehen! Seine Hand legte sich auf den bronzenen Türring zu seiner Kammer.
»Herr Ritter!«
Golo fluchte innerlich. Was hatte er falsch gemacht? Langsam drehte er sich um. Er durfte sich nichts anmerken lassen. Wenn jemand fragte, wo er gewesen war, würde er behaupten, er habe nach einer Straßendirne gesucht.
»Was gibt’s?« Der junge Ritter bemühte sich, möglichst gelassen zu klingen.
»Euer Beinkleid, Herr... Es ist voller Blut! Seid Ihr verletzt? Soll ich nach einem Heilkundigen rufen lassen?«
Verwirrt blickte Golo an sich herab. Tatsächlich! Seine Beinlinge waren von hinten mit dunklem Blut verschmiert. Auch seine rechte Hand war rot von geronnenem Blut! »Was bei allen Heiligen...« Der junge Ritter stützte sich gegen die Wand.
»Hat man Euch angegriffen, Herr? Ihr seid blaß wie der Tod!«
»Es ist schon gut. Ich bin gestürzt... Es ist nichts Schlimmes. Ich werde die Wunde waschen und verbinden.«
»Seid Ihr sicher, daß ich nicht doch nach dem Heilkundigen des Grafen schicken soll? Er kommt aus Byzanz... Er ist ein sehr guter Mann und...«
»Ich komme alleine zurecht! Hab Dank für deine Anteilnahme, doch gestatte, daß ich mich nun auf meine Kammer zurückziehe. Ich bin erschöpft...«
»Jawohl, Herr!« Der junge Krieger verneigte sich ehrerbietig.
Golo fühlte sich elend. Er stieß die Tür zu seiner Kammer auf und ließ sich auf den hochlehnigen Eichenstuhl sinken. Auf dem Tisch vor ihm brannte eine Öllampe. Zitternd hob er seine rechte Hand und starrte auf das Blut. Die feuchte Stelle unter dem Torbogen! Der Diener hatte ihn nicht versetzt. Er selbst war es, der zu spät gekommen war!