Vor den Stadtmauern ließ Ricchar seinen Hengst in leichten Trab fallen. Er wies auf einen steilen Hügel im Westen. »Dieser Berg war früher einmal der Venus geweiht. Heute birgt er ein anderes Geheimnis. In dieser Nacht, mein Freund, sollst du erfahren, was mich im Innersten bewegt, und wenn du willst, wirst auch du die erste Weihe auf dem Weg zum Licht empfangen.«
Volker schüttelte verwirrt den Kopf. »Wie meinst du das? Ich fürchte, ich habe den Sinn deiner Worte nicht ganz verstanden.«
»Nun, es ist ein wenig kompliziert. Ich möchte dir nicht zu nahe treten, doch denke ich, es ist an der Zeit, daß wir über gewisse Dinge reden. Dir ist vielleicht schon aufgefallen, daß es an meinem Hof keine Geistlichen gibt. Ich habe sie alle davongejagt, denn ich halte die Christen für Diebe und Lügner. Diese Worte mögen dich verletzen, ja vielleicht sogar abschrecken, aber ich bitte dich, gib mir Gelegenheit, dir zu erklären, warum ich so denke.«
»Ich gehöre nicht zu jenen, die glauben, das Christentum mit dem Schwert verbreiten zu müssen. Ich war sogar in eine heidnische Priesterin verliebt. Solange du nicht versuchst, mich dazu zu zwingen, meinen Glauben zu verleugnen, gibt es keinen Grund für mich, dir zu grollen.«
Ricchar nickte ernst. »Ich habe gewußt, in dir einem weisen Mann begegnet zu sein. Auch ich war einmal Christ, bis ich eines Tages erleuchtet wurde. Es ist erst drei Jahre her. Ich hatte mich mit Mönchen über die Geschichte der Römer unterhalten, und plötzlich begriff ich, daß von dem Moment an, in dem die Römer das Christentum zur Religion des Kaiserhauses gemacht haben, ihr Reich schwach geworden ist.«
»Soweit ich weiß, hat Konstantin im Zeichen des Kreuzes einen großen Sieg errungen«, entgegnete Volker kühl. Er war ein wenig enttäuscht. Bei ihrem Aufbruch hatte er darauf gehofft, daß Ricchar ihm etwas Ungewöhnliches zeigen wollte, doch nun schien es so, als wolle der Fürst lediglich mit ihm allein sein, um in Ruhe ein Gespräch über den Wert des Christentums zu führen.
»Was hat dieser Sieg genutzt?« fragte Ricchar zynisch. »Es war nur eine Schlacht! Entscheidend ist, wie die letzte Schlacht endet. Und du weißt, daß die Römer ihr Reich Stück um Stück verloren haben. In den Zeiten, als ihre Legionen noch von Sieg zu Sieg gezogen sind, beteten die Soldaten zu einem Gott, der Mithras geheißen wurde. Er kam aus einem Land weit im Osten, noch jenseits der Ufer von Euphrat und Tigris. Mithras wurde meist als Soldat dargestellt. Er hat den Urstier getötet, aus dem die Welt erwachsen ist. Die Babylonier und viele andere Völker haben schon zu ihm gebetet, lange bevor Christus überhaupt geboren wurde. Mithras steht für das Licht, das die Finsternis besiegt, genauso wie der Christengott, der über Satan triumphiert. So wie dein Gott gilt er als Weltenschöpfer, und wie bei der Geburt Christi waren auch bei seiner Geburt Hirten als Zeugen zugegen. Und weißt du, an welchem Tag des Jahres er geboren wurde? Am vierundzwanzigsten Dezember, so wie dein Heiland. Die Priester des Christengottes haben all dies schamlos vom Mithrasglauben gestohlen. Es gibt Dutzende solcher Geschichten. Die mithrischen Symbole Löwe, Stier und Adler kehren bei den Christen als die Symbole der Evangelisten Markus, Lukas und Johannes wieder. Wie Moses mit seinem Stab Wasser aus dem Felsen schlägt, so zaubert Mithras durch einen Pfeilschuß in eine Felswand Wasser herbei. Und sieh dir die Rituale deines Christengottes an! Die Taufe mit Vollbad, so wie sie Johannes vollzieht, kennt auch die Mithraspriesterschaft. Weihwasser und das ewige Feuer spielen ebenso eine Rolle wie heilige Mahle und Gesang oder das Verdecken und Enthüllen des Altarbildes bei Schellengeklingel...«
»Wenn dein Glaube dem Christentum aber so ähnlich ist, wie du behauptest, waren sollten dann die Christen dem römischen Reich den Untergang gebracht haben? So wie es scheint, hat sich doch kaum etwas geändert!«
»Ein kluger Einwand! Doch vermag ein Schwert aus Bronze gegen eines aus Eisen zu bestehen, auch wenn es eine noch so gute Kopie ist und vielleicht strahlender aussieht als das Original? Ich bin für mich zu dem Schluß gekommen, daß es den Christengott gar nicht gibt! Ich habe niemals erlebt, wie einer seiner Priester ein Wunder gewirkt hat! Mithras aber macht seine Anhänger unbesiegbar auf dem Schlachtfeld! Sein Beiname ist invictus, und jene Kaiser der Römer, die ihn verehrt haben, gehörten zu den strahlendsten Feldherren.«
»Und wie kommt es dann, daß der Mithraskult dem Christentum weichen mußte? Mir scheint, in dieser Schlacht haben seine Anhänger eine vernichtende Niederlage erlitten«, entgegnete Volker lakonisch.
Ricchar drehte sich im Sattel um. In der Finsternis konnte der Spielmann das Gesicht des Frankenfürsten nicht erkennen, doch klang die Stimme des Grafen düster und zornig. »Es gab keinen regelrechten Krieg zwischen den Mithrasanhängern und den Christen. Ich habe dir doch schon gesagt, daß ich die Christen für keine wirklich guten Kämpfer halte. Doch was man ihnen nicht absprechen kann, ist, daß sie geschickte Intriganten sind. Wer einen Bischof kennt und weiß, wie solche Männer in Amt und Würden kommen, der wird mir recht geben. Sie haben Mithras und seine Gläubigen verleumdet und zugleich aus ihrem Kult gestohlen, was ihnen brauchbar erschien. So ist der Gott des Lichtes in Vergessenheit geraten, obwohl noch keine fünf Generationen vergangen sind seit jenen Tagen, in denen in fast jeder Stadt hier am Rhein ein Heiligtum für Mithras gestanden hat. Anders als ihr Christen unterschieden die Mithrasjünger nicht nach Stand und Geburt. Selbst der niederste unter ihnen durfte seinen Kaiser, der ebenfalls zu Mithras betete, als Bruder ansprechen. Es war wie...« Er hielt inne.
Ein leichter Wind ließ die schwüle Hitze einen Augenblick lang vergessen und zerriß die dichten Wolken am Himmel. Nördlich von ihnen flackerte ein großes Feuer zwischen Bäumen. Undeutlich konnte Volker den Schatten eines Hauses erkennen. Das Dach stand in Flammen...
Ricchar riß sein Pferd herum und gab ihm die Sporen. Der Fürst preßte die Lippen zusammen, so daß sein Mund im fahlen Mondlicht wie eine breite Narbe aussah, die sein Gesicht in zwei Hälften teilte.
Auch Volker trieb seinen Hengst nun zur Eile an. Immer schneller trommelten die Hufe auf den ausgedörrten Boden. In der Ferne waren jetzt schattenhafte Gestalten vor dem brennenden Gebäude zu erkennen. Es war eine hohe Scheune, neben der sich ein niedriger Stall und ein heruntergekommenes Gesindehaus in die Schatten der Nacht kauerten.
Dicht über dem Sattel des Grafen sah der Spielmann ein silbriges Funkeln. Ricchar hatte seinen Dolch gezogen. Volker tat es ihm gleich. Der Gutshof war jetzt kaum mehr als zehn Schritt entfernt. Deutlich konnte man einen zusammengesunkenen kahlköpfigen Mann im unsteten Licht der Flammen erkennen. Zwei schwarze Pfeilschäfte ragten aus seiner Brust. Noch im Tod hielt er die Hände zu Fäusten geballt. Dicht daneben lag ein Kerl über einem Mädchen im Heu. Ihre Röcke waren heruntergerissen.
Ricchar sprang im Galopp aus dem Sattel. Leicht taumelnd, rannte er zu dem Kerl im Heu, riß ihm den Kopf nach hinten und zog ihm den Dolch über die Kehle. Das Mädchen im Heu war tot. Man hatte ihr mit einer Axt den Schädel eingeschlagen. Alles erschien Volker seltsam unwirklich, so als sei er in einem Traum gefangen, aus dem er nicht mehr erwachen konnte. Er wendete sein Pferd und ritt einen jungen Mann nieder, der den Grafen von hinten mit einem Speer angreifen wollte. Dann sprang auch der Burgunde aus dem Sattel. Er stolperte halb über einen kleinen Jungen, der mit dem Gesicht nach unten im Staub lag. Das goldene Haar des Kindes war von dunklem Blut verklebt.
Ein Kerl mit einer Nagelkeule kam auf Volker zugelaufen. Der Ritter duckte sich unter dem Schlag hinweg und rammte dem Angreifer seinen Dolch in den Bauch. Die Wucht des Aufpralls riß dem Spielmann die Waffe aus der Hand. Der andere rannte noch ein paar Schritt, bis er sich gefangen hatte. Es war ein großer, schlacksiger Kerl mit weit abstehenden Ohren. Jetzt fiel ihm die Keule aus der Hand. Er drehte sich halb um und starrte erst auf das Messer in seinem Bauch und dann zu Volker.