»Du willst mir wohl einen Bären aufbinden!« Volker schüttelte verärgert den Kopf. Offenbar wußte der Kerl nicht mehr zwischen Dichtung und Wirklichkeit zu unterscheiden. »Am Ende willst du gar noch behaupten, dein Märchen sei wahr!«
»Ja, Ihr habt recht, Herr Volker! Ich bin der Hirte aus dem Märchen. Freilich ist das meiste aus meiner Geschichte erfunden, doch gibt es den Feuervogel wirklich, und es ist auch nicht gelogen, daß ich vor der Sommerkönigin gestanden habe, um ihr von dem erfrorenen Ritter zu berichten. Sie hat ihn an den Waffen, die ich zu beschreiben wußte, als ihren verschollenen Liebsten erkannt. Es hat mir später leid getan, ihr mit meinem Bericht jede Hoffnung genommen zu haben. Ich konnte ja nicht ahnen, daß sie es so aufnehmen würde. Nur wenige Wochen darauf ist sie spurlos verschwunden, und ich fürchte, es war meine Nachricht, die sie vertrieben hat.«
»Erzähl mir kein neues Märchen, um die Glaubhaftigkeit einer unglaublichen Geschichte zu unterstreichen.«
Geron seufzte. »Ich hätte nicht erwartet, daß auch Ihr an meinen Worten zweifelt.« Er öffnete den faustgroßen Lederbeutel, den er an seinem Gürtel trug, zog ein schlankes, kleines Holzkästchen daraus hervor und hielt es Volker hin. »Öffnet dies! Danach werdet Ihr mir Glauben schenken, Herr Spielmann!«
Der Burgunde strich vorsichtig über den polierten Deckel aus altersdunklem Rosenholz. Das Schmuckkästchen war schön gearbeitet, und die Seiten waren mit Schnitzereien verziert, die Efeuranken zeigten. Mit dem Daumennagel klappte Volker den Verschluß zurück. Das Kästchen war mit dunkelblauem Samt ausgeschlagen, auf dem eine feuerrote Feder lag. Kein Vogel, den er je gesehen oder von dem er auch nur gehört hatte, trug ein solches Federkleid!
»Nun, Herr Spielmann, zweifelt Ihr noch immer an meinen Worten?«
»Woher hast du das?« flüsterte der Barde ehrfürchtig.
»Erinnert ihr Euch nicht mehr an das Märchen? Ich habe die Feder in der verloschenen Feuerstelle vor dem erfrorenen Ritter gefunden.«
Vorsichtig berührte Volker die Feder, halb darauf gefaßt, daß er sich die Finger verbrennen würde. Doch das Kleinod fühlte sich an wie jede andere Vogelfeder auch. »Woher weißt du, daß sie vom Feuervogel ist? Ich meine... Du hast ihn doch nicht gesehen! Und warum verbrenne ich mich nicht an ihr? Du sagtest doch, sein Gefieder sei wie Flammen.«
Geron nickte. »Gewiß, doch sind es Flammen, die Eure Seele verbrennen werden, wenn Ihr dem Feuervogel in seiner wahren Gestalt zu nahe kommt. Nur eine Feder bei sich zu tragen ist ungefährlich... Zumindest glaube ich das.«
Volker musterte den Fahrenden einige Augenblicke schweigend. Geron schien sich nicht darüber im klaren zu sein, wie sehr er sich irrte. Es lag ein Zauber in der Feder, und ihr Fund hatte sein Leben verändert. Er war vom Hirten zum wandernden Märchenerzähler geworden und hatte sich ganz dem Feuervogel verschrieben.
»Woher hast du all dein Wissen über diesen seltsamen Vogel, von dem du erzählst.«
Der Märchenerzähler grinste schief. »Ich weiß, wo ich ihn suchen muß. Und selbst wenn ich den Feuervogel nur einmal von Ferne selbst gesehen habe, so bin ich doch vielen begegnet, die ihm näher waren und von ihm erzählen konnten. Den Feuervogel findet man stets dort, wo Dunkelheit und Unrecht regieren. Die Gebete der Verzweiflung scheinen ihn herbeizurufen. Er bringt das Licht und die Hoffnung. Man sagt, er kann vielerlei Gestalt annehmen, und daß jene, die ihm begegnen, es meist erst begreifen, wenn er sie wieder verläßt, ganz so wie der Königssohn in meinem Märchen. Es heißt, daß der Feuervogel auf jede Frage eine Antwort kennt. Er spricht alle Sprachen dieser Welt, und kein Geheimnis kann vor ihm verborgen bleiben.«
»Und wo bist du ihm begegnet?«
»Ich habe ihn über einem Tal in den Bergen westlich von Castra Bonna fliegen sehen. Dies ist Frankenland, und der grausame Graf Ricchar herrscht dort. Er steht mit finsteren Mächten im Bunde, die ihm in jeder Schlacht zum Siege verhelfen. Für ihn haben sich die Pforten der Hölle geöffnet, und der Gottseibeiuns hat ihm hundert Ritter geschickt, deren Leiber aus Eisen sind, so daß keine Waffe sie zu verwunden vermag. In den Adern dieser Krieger aber fließt flüssiges Feuer, und wer immer ihnen zu nahe kommt, muß in Flammen aufgehen. Wo sonst als in einem solchen Land sollte man den Feuervogel fliegen sehen?«
Der Spielmann nickte bedächtig. »Krieger aus Eisen, in deren Adern flüssiges Feuer fließt... Du verstehst es, deine Zuhörer immer wieder zu überraschen.«
»Ihr wollt mir nicht glauben, Herr Volker. Beendet Euer Spiel mit mir. Ich werde Worms noch in dieser Nacht verlassen und mir einen Ort suchen, an dem man einem Fahrenden, der so viel gesehen hat wie ich, mehr Respekt entgegenbringt. Nun gebt mir meine Feder zurück. Ihr müßt blind sein, wenn Ihr mir mit dem Beweis für die Wahrheit meiner Worte vor Augen noch immer nicht zu glauben vermögt.« Fordernd streckte der Märchenerzähler die Rechte vor.
Volker klappte das kleine Schmuckkästchen zu und reichte es Geron.
»Ich hoffe, daß Euch Euere Zweifel niemals zum Verhängnis werden, Spielmann. Ich habe die Gabe des zweiten Gesichtes. Wisset, daß Ihr eines Tages mit Euerem König in einem brennenden Festsaal stehen werdet, und alle Tore sind Euch verschlossen. Das Feuer bestimmt Euren Weg...« Der Märchenerzähler steckte das Kästchen in den Lederbeutel an seinem Gürtel zurück, griff nach seinem Wanderstab, der an der Mauer des Turms lehnte, und schritt eilig über die staubigen Wege des sonnendurchfluteten Kräutergartens davon.
Lange blickte Volker ihm nach. Er wußte nicht, ob Geron nur ein harmloser Verrückter war oder ob er tatsächlich dem Wunderbaren begegnet war. Schließlich fragte sich der Spielmann auch, ob ihn nicht viele bei Hof für mindestens ebenso verrückt hielten. Er hätte Geron nicht verspotten sollen! Wenn es den Feuervogel tatsächlich gab, würde dieser ihm verraten können, wo er die Morrigan finden konnte, jene Heidenpriesterin, an die er im vergangenen Jahr sein Herz verloren hatte.
Volker fluchte leise. Dann machte er sich auf den Weg, den Märchenerzähler zu suchen. Doch im Garten war er nicht mehr zu finden. Als der Spielmann schließlich an das Tor der Königsburg gelangte, erklärten ihm die Wachen, daß der Fremde erst vor wenigen Augenblicken gegangen sei. Auf der Straße vor der Burg jedoch war niemand mehr zu sehen.
Der Barde eilte zu den Ställen und ließ sein Pferd satteln. Er ritt zur Stadt hinab und fragte in jeder Schenke und in jedem Gasthaus nach dem Märchenerzähler, aber keiner hatte Geron gesehen. Auch auf den Straßen, die von Worms fort führten, war der merkwürdige Wanderer nicht zu finden, und fast schien es, als habe es den Fahrenden niemals gegeben.
Lange nach Einbruch der Finsternis kehrte Volker zur Königsburg zurück. Er war sich jetzt sicher, daß Geron ihn nicht belogen hatte. Ein Mann, der es schaffte zu verschwinden, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen, war mehr als nur ein Hirtenjunge, der eines Tages beschlossen hatte, als Fahrender durch die Lande zu ziehen!
Wenigstens hatte Geron ihm eine Spur gewiesen. Er mußte nach Norden ziehen, überlegte Volker. Der Feuervogel würde wissen, wo die Morrigan zu finden sei. Es verging kaum eine Stunde, in der er nicht an die Herrscherin des Nachtvolks dachte. Mit Hilfe des Feuervogels würde er sie wiederfinden! Oder würde er nur einer Märchengestalt nachlaufen und sich lächerlich machen?
Volker lächelte müde. Er war wohl der einzige Ritter im Gefolge König Gunthers, der auf die Idee kommen würde, nach dem Funken Wahrheit zu suchen, der sich hinter einem Märchen verbergen mochte.
1. KAPITEL
Golo hatte gewußt, daß es ein Fehler war, mit dem Spielmann zu reiten. Man folgte niemandem, der verrückt geworden war! Volker hatte sich tatsächlich in den Kopf gesetzt, den Feuervogel zu finden, ein Geschöpf, das der Phantasie eines Märchenerzählers entsprungen war... Verwechselte der Spielmann jetzt sein Leben mit dem der Helden aus den romantischen Liedern, die er seinen Damen sang? Wie konnte Volker nur an so etwas glauben? Golo erinnerte sich noch gut daran, wie sein Gefährte ihm seinen Glauben an die Feen hatte ausreden wollen. Mehr als ein Jahr war seitdem vergangen...