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Golo blickte zu Volker hinüber, doch sein ehemaliger Herr bemerkte ihn nicht. Vielleicht dichtete der Spielmann in Gedanken ein neues Lied?

Dreihundert Schritt von ihnen entfernt erhoben sich auf einem Hügel nahe dem Ufer drei große schwarze Weiden. Raben kauerten dort im Geäst. Vom Stamm des mittleren Baumes hing etwas Helles hinab. Golo konnte es nicht genau erkennen, doch schienen sich die Raben sehr dafür zu interessieren. In dunklem Rot erglühende Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Ein leichter Windhauch wehte vom Fluß herüber. Die Brise ließ Golo erschauern. Irgend etwas hatte sich verändert. Unsicher musterte er die Bäume, und einige Augenblicke verstrichen, bis er wußte, was plötzlich anders war. Es war still. Die Vögel im Uferdickicht, die sie den ganzen Tag über mit ihrem Konzert begleitet hatten, und die Grillen im hohen Gras, sie alle waren verstummt. Seine Stute hatte die Ohren steil aufgerichtet und schnaubte leise. Selbst Volker hob jetzt den Kopf, so als habe ihn etwas aus seinen Gedanken aufgeschreckt.

Ein Vogelschrei beendete das Schweigen. Es war einer der Raben auf der Weide vor ihnen. Mit heiserem Krächzen hatte er sich von dem dicken Ast abgestoßen, drehte einen Kreis über dem Hügel und flog dann dem jenseitigen Ufer entgegen. Einen Atemzug später folgten ihm die anderen Raben mit schwerem Flügelschlag.

Der Hügel vor ihnen war jetzt nur noch wenig mehr als hundert Schritt entfernt, und als Golo den Blick vom Himmel wandte, konnte er erkennen, was vom Stamm der mittleren Weide hing. Es war eine Frau, die man mit dem Kopf nach unten an den Baum gebunden hatte. Deutlich sah er die großen dunklen Flecken auf ihrem Gewand, und wie krumme Spinnenbeine ragten zerbrochene Pfeilschäfte aus ihrem Leib.

Hinter dem Hügel erklang das Donnern von Hufen. Unwillkürlich glitt die Hand des jungen Ritters zum Schwert an seiner Seite.

»Laß das!« zischte Volker scharf. »Das werden zu viele für uns sein. Vergiß nicht, daß ich als Barde unberührbar bin. Jedenfalls solange ich nicht mit der Waffe in der Hand angetroffen werde. Du wirst unter meinem Schutz stehen. Vertrau mir...«

»Ich glaube nicht, daß eine Horde plündernder Sachsen sich darum schert, daß du dich darauf verstehst, die Laute zu schlagen. Die verstehen nur eine Sprache.« Golo zog blank und griff nach dem Schild, der von seinem Sattel hing. »Ich möchte nicht so enden wie die Frau dort oben am Baum.«

»Du hältst dich zurück!« Der Spielmann zog die Laute von seiner Schulter und löste die lederne Schutzhülle, in die das Instrument eingeschlagen war.

Auf der Hügelkuppe erschien ein einzelner Reiter. Ein großer Rundschild deckte seine linke Seite von der Schulter bis zu den Knien. In der Rechten hielt er eine Drachenstandarte, ein Feldzeichen, gekrönt von einem goldenen Drachenkopf, hinter dem ein langer Stoffschlauch flatterte, so daß man glauben mochte, daß es sich nicht um ein Banner, sondern um ein lebendes Wesen handelte. Das Zaumzeug und die Rüstung des Reiters funkelten, so als seien sie aus Gold und Silber gefertigt. Golo kniff die Augen zusammen, um den Mann besser erkennen zu können, und erstarrte wie vom Donner gerührt. Das Gesicht des Reiters war blauschimmerndes Eisen, sein Haar und seine Augenbrauen lauteres Gold!

»Bei allen Heiligen, was ist das, Volker?«

»Die Männer aus Eisen, in deren Brust ein Herz aus Flammen lodert«, murmelte der Barde leise. Volker zügelte sein Pferd und starrte zu dem Reiter auf der Hügelkuppe hinauf.

Hinter dem Standartenträger erschien eine Phalanx von Reitern. Sie alle sahen aus wie Statuen aus Erz. Jeder der Männer mußte zwei Schritt oder mehr messen, und ihre Pferde waren so riesig wie Kutschrösser.

Golo flüsterte ein Gebet. Wenn sie jetzt die Zügel herumrissen und im gestreckten Galopp davonjagten, würden sie diesen Dämonen vielleicht entkommen können.

»Seid Ihr Volker von Alzey, der Barde des Königs von Burgund?« Der Mann mit der Drachenstandarte hatte gesprochen. Seine Stimme war dunkel und klang seltsam unnatürlich.

»Wer will das wissen?« entgegnete Volker kühl.

Golo verfluchte den Spielmann innerlich. Wie konnte er diesen Dämon auch noch reizen? Wenn er den Tod suchte, war das seine Sache, doch es wäre eine nette Geste, wenn er auch einmal an ihn denken würde. Unauffällig spähte der junge Ritter über seine Schulter. Der Treidelpfad hinter ihnen war frei. Einer Flucht stand nichts im Wege und...

Volker trieb seinen Hengst den Hügel hinauf. Golos Mund war so trocken, als hätte er einen ganzen Eimer voll Staub geschluckt. Was tat dieser verrückte Kerl da nur! Einige Herzschläge lang zögerte der Ritter, dann folgte er seinem Freund.

»Mich schickt mein Herr, Graf Ricchar, Heermeister des Königs Merowech und Gebieter über alles Land von hier bis zu den Mauern von Treveris. Er entbietet Euch seinen Gruß, Herr Volker, und lädt Euch und Euren Begleiter ein, ihm die Ehre zu erweisen, mit ihm an seiner Tafel zu speisen.«

»Wir nehmen diese Einladung mit Freuden an.«

Golo hatte inzwischen die Kuppe des Hügels erreicht. Mißtrauisch musterte er den Bannerträger. Der Mann hatte kalte graue Augen. Seine ehernen Lippen waren zu einem Lächeln erstarrt. Er trug eine Maske! Um seinen Hals war ein roter Schal geschlungen, über dem ein schmaler Streifen heller Haut schimmerte. Doch das hieß noch nicht, daß er kein Dämon war! Der Kerl überragte ihn um mehr als Haupteslänge. Kein gewöhnlicher Mensch war so groß! Golo beschloß, den Bannerträger nicht aus den Augen zu lassen.

»Wird das Land Eures Herren von Sachsenhorden heimgesucht?« Volker nickte in Richtung der Frau. Sie hing mit dem Kopf nach unten am Stamm, doch hatte man sie nicht gebunden, so wie Golo zuerst geglaubt hatte, sondern an den Baum genagelt. Ihre Arme waren dabei weit ausgebreitet, und es schien, als hätten Heiden den Tod verhöhnen wollen, den der Heiland einst am Kreuze gestorben war. Wohl zwei Dutzend Pfeile hatten ihren Körper durchbohrt, und das Gesicht des Weibes war bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, was wohl das Werk der Raben war, die hier ihr Mahl gefunden hatten. Geronnenes Blut hatte das goldene Haar der Frau dunkel gefärbt. Sie war schlank und von zierlicher Statur gewesen. Der junge Ritter schätzte, daß sie kaum mehr als zwanzig Sommer gesehen haben mochte.

»Die Sachsen wagen sich hier nicht über den Rhein«, tönte die dunkle Stimme hinter der Maske. »Das Weib hat mit seinen Reden den Namen des Grafen besudelt. Der Elenden ist dafür die gebührende Strafe widerfahren! Man hat sie heute morgen gerichtet.«

»Dein Herr regiert seinen Gau mit strenger Hand, und mir scheint, es ist leicht, seinen Zorn zu erwecken.«

Golo zuckte zusammen. Wenn Volker so weitermachte, würden sie auch noch an irgendwelche Bäume genagelt werden.

»Das Urteil mag Euch zu streng erscheinen, Herr Volker, doch glaube ich nicht, daß Euer König Gunther Gnade walten ließe, wenn man ihn den Bastard einer Magd nennen würde. Dies Weib war von der Finsternis durchdrungen... Doch im Tod hat sie das Licht des Mithras erblickt und ward erlöst.«

»Ihr sagtet, Ihr sollt uns an den Hof Eures Fürsten geleiten...« Volker musterte den Standartenträger kalt. »Wir werden Euch folgen.«

Der Krieger mit der eisernen Maske wendete wortlos sein Pferd. Dann gab er den anderen Reitern ein Handzeichen, und sie nahmen die beiden Burgunden in ihre Mitte.

Voller Mißtrauen verfolgte Golo die Bewegungen der Krieger. Sie alle waren außergewöhnlich groß. Die eisernen Masken, die immer dasselbe jugendliche Gesicht zeigten, ließen die Männer wie Brüder aussehen. Mit geradezu unheimlicher Präzision teilte sich ihre Formation in zwei gleichlange Reihen. Sie formierten sich rechts und links des Weges, der über den Hügel führte. Ob sie vielleicht doch Dämonen waren, die alle von einem Geist beherrscht wurden? Keiner der Krieger sprach oder neigte auch nur den Kopf, um Volker und ihn zu mustern. So verhielten sich keine gewöhnlichen Männer! Und wer war Mithras? Ein heidnischer Götze? Ein Diener Satans vielleicht?