Die Eskorte brachte sie zwei Meilen weiter den Rhein hinauf. Seitlich des Weges gab es nun einige Äcker, doch kein Mensch war zu sehen. Das Land wirkte wie tot. Zur Linken lagen Hügel, die langsam in niedrige Berge übergingen. Auf einem der Hügel stand ein großes ausgebranntes Steinhaus, aus dessen Fenstern die Äste junger Eichen wuchsen.
Der Ritt verlief schweigend. Die Stille wurde nur durch den dumpfen Klang der Hufe und die Rufe der Vögel im Uferdickicht des großen Flusses gestört. Endlich führte der Weg sie auf einen zweiten Hügel, von dem aus sie Castra Bonna vor sich liegen sahen. Dicht entlang des mit steinernen Kais befestigten Ufers verlief die Mauer des Legionslagers aus alter Zeit. Sie war an die zehn Schritt hoch und zusätzlich durch zahlreiche Türme gesichert. Golo war von der Größe der Stadt überrascht. Die quadratische Festungsanlage hatte eine Seitenlänge von fast einer halben Meile. Auch außerhalb der Mauern lagen viele Häuser, doch selbst von weitem war zu erkennen, daß sie verfallen und verlassen waren. Nicht einmal innerhalb der Wälle waren alle Wohnhäuser in einem guten Zustand. Hier und dort konnte man eingestürzte Dächer erkennen, und zwischen den alten Steinbauten erhoben sich Dutzende von Fachwerkhäusern mit lehmverputzten Wänden und breiten Rieddächern.
Am nördlichen Ende der Stadt war ein kleiner Palast mit Säulengängen und weiß getünchten Mauern zu sehen. Davor lag ein großer Platz, auf dem Krieger in schimmernden Waffen aufmarschiert waren. Golo schluckte. Was für ein Empfang! Man konnte meinen, der Gaugraf erwarte ein burgundisches Heer und nicht nur zwei Ritter.
Graf Ricchar war viel jünger, als Volker ihn sich vorgestellt hatte. Der Reitergeneral gehörte zu den einflußreichsten Männern im Frankenreich. Er kommandierte die Reiterei des Königs, und es hieß, er habe noch niemals eine Schlacht verloren. Obwohl Ricchar schon der Held vieler Bardenlieder war, mochte er höchstens fünfunddreißig Sommer zählen. Sein Gesicht war von der Sonne gebräunt, und erste schmale Falten zeigten sich um seine klaren blauen Augen. Sein hellblondes gelocktes Haar trug er kurzgeschoren, wie es unter Kriegern üblich war. So wie die Reiter, die der Graf ihnen als Eskorte entgegengeschickt hatte, war auch Ricchar auffällig groß. Vom Scheitel bis zur Sohle mochte er knapp zwei Schritt messen.
Die Rüstung und Kleidung des Kriegers waren für einen Franken außergewöhnlich. Über einer dunkelroten Tunika, die bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, trug der Fürst einen weißen Leinenpanzer, dessen Bruststück mit einer aufgestickten Sonnenscheibe mit breitem Strahlenkranz verziert war. Seine Füße steckten in Bundschuhen aus feinem Leder, deren Verschnürung hinter feinziselierten Beinschienen verschwand. An der linken Seite trug der Graf ein langes Reiterschwert, das er ungewöhnlich hoch gegürtet hatte.
Entlang des gepflasterten Platzes vor dem Palast waren mehr als hundert Soldaten aufmarschiert. Sie alle waren einheitlich ausgerüstet. Ricchar mußte ein reicher Mann sein, denn die Kämpfer waren ohne Ausnahme mit Kettenhemden und eisernen Helmen gewappnet.
Ein wenig beschämt blickte Volker an sich herab. Auch er trug ein Kettenhemd, doch das war hier ja nichts Besonderes. Sein flammend roter Umhang und sein weißer Waffenrock waren vom Staub der Reise beschmutzt. Auf dem schönen Platz und zwischen all den Kriegern in schimmernder Wehr kam er sich unscheinbar und unbedeutend vor. Die Reiter ihrer Eskorte waren zu den Seiten des Platzes hin abgeschwenkt. Volker zügelte seinen Hengst und schwang sich aus dem Sattel. Ricchar kam ihm mit ausgebreiteten Armen entgegengeeilt, ganz so, als seien sie alte Waffengefährten.
»Volker von Alzey! Endlich ist es mir vergönnt, Euch zu begegnen. Ihr seid mir ein Licht in dieser dunklen, zerstörten Stadt am Ende der Welt. Kaum wage ich zu hoffen, daß Ihr länger als eine Nacht verweilen werdet, weiß ich doch nun den größten Schatz des Burgundenkönigs in meinen Mauern.«
Der Spielmann räusperte sich verlegen und verneigte sich. »Die Ehre ist ganz auf meiner Seite. Wenn man den Erzählungen über Eure Taten lauscht, so will man glauben, ein Held aus alten Zeiten sei wiedererstanden.«
Ricchar schloß ihn in die Arme. Obwohl der Franke eher schlank war, hatte er die Kräfte eines Bären. »Lassen wir die Förmlichkeiten, Volker. Ich kenne deine Lieder und ahne in dir einen Verwandten im Geiste. Erlaube, daß ich offen zu dir rede, so wie Freunde es tun. Dieselbe Offenheit erwarte ich auch von dir. Ich kann mir sehr wohl denken, wie man am Hof zu Worms von mir spricht. Immerhin habe ich den Rittern des Königs im letzten Herbst manche Schlappe beigebracht, auch wenn ich zu spät kam, um zu verhindern, daß Hagen Treveris eroberte. Ich weiß, daß du keinen Anteil an diesem Krieg hattest und zu jener Zeit im fernen Aquitanien weiltest.« Der Graf lächelte. »Du siehst, ich kenne dein Epos über das Nachtvolk... Und ich bin gespannt, deine neuen Lieder zu hören, wenn du mir dann die Ehre erweisen magst, das Licht der hohen Dichtkunst in meine Festhalle zu tragen. Sei gewiß, daß niemand dich und deinen Begleiter hier in meinem Gau als einen Feind betrachtet, auch wenn meine Krieger darauf brennen, erneut gegen die Burgunder ins Feld zu ziehen und über den Mauern von Treveris wieder das Banner unseres Königs aufzupflanzen.«
»Eure Worte erfüllen mich mit Stolz, und doch macht es mich auch zugleich verlegen, Euch in dieser Weise von meiner Dichtkunst sprechen zu hören, die allzuoft nur unvollkommen und...«
»Willst du mich beschämen, mein Freund? Ich habe dir angeboten, mit mir wie mit einem Kameraden zu reden. Ich halte nichts von dem förmlichen Geschwätz von Gesandten und Höflingen. Ich ziehe jederzeit das offene Wort irgendwelchen nichtssagenden Floskeln vor. Und was die Dichtkunst angeht, Volker, so muß ich gestehen, daß auch ich mich darin schon versucht habe und kläglich gescheitert bin. In Stabreimen, wie sie die Alten pflegen, bin ich zwar wohlbewandert, aber deine neue Reimtechnik des Langzeilenverses vermag ich nicht zu kopieren.«
Der Spielmann starrte den Fürsten verblüfft an. Nach allem, was er über Ricchar gehört hatte, hatte er einen blutdürstigen Barbaren erwartet. Doch vor ihm stand statt dessen ein Mann, der, obwohl er zum höchsten Kriegeradel des Frankenreiches gehörte, ihm kaum, daß sie sich begrüßt hatten, zu vertrautestem Umgang einlud und der obendrein auch noch in der Dichtkunst bewandert zu sein schien.
»Du schätzt das offene Wort, Ricchar? Dann laß dir gesagt sein, daß du mich erstaunst. Du bist in der Tat nicht der Mann, den ich hier anzutreffen glaubte.«
Der Fürst lächelte und nickte in Richtung des Palastes. »Laß uns hineingehen. Ich habe heute morgen eine Wildsau erlegt, und meine Köche haben sie einen halben Tag lang gebraten, weil ich ihnen für den Abend einen besonderen Gast angekündigt habe. Wir sollten uns zur Tafel begeben, bevor man in der Küche anfängt, sich die Haare zu raufen, weil die Schwarte langsam so schwarz wie Holzkohle wird. Ich muß gestehen, ich hatte schon früher mit dir und deinem Freund gerechnet. Seid ihr aufgehalten worden?«
Volker schüttelte den Kopf. »Wir ahnten nicht, daß man uns erwartet. Darf ich dir meinen Freund und Weggefährten Golo vorstellen?«
Der Graf bedachte den jungen Ritter mit einem kurzen Blick und führte die beiden dann die Stufen zum Palast hinauf. Hinter ihnen auf dem Hof erschollen einige scharfe Kommandorufe, und die Krieger rückten in geordneten Kolonnen zu ihren Quartieren ab. Stallburschen eilten herbei, um die Pferde der Reiter fortzuführen. Aus den Augenwinkeln sah Volker, wie einer der Kämpen offensichtlich erleichtert seine eiserne Gesichtsmaske abschnallte. Es war ein junger Kerl, der sich nun, da er seinen Helm abgenommen hatte, zumindest äußerlich in nichts von den anderen Kriegern unterschied, die auf dem Platz versammelt gewesen waren.