Der Eber schüttelte resignierend den Kopf. »Es wird keinen Aufstand mehr geben. Der Ketzerfürst hat gesiegt! Diejenigen, die sein Strafgericht überleben, werden sich unter seine Herrschaft beugen. Es macht keinen Sinn, noch einmal gegen ihn aufbegehren zu wollen. Unsere Zeit ist vorbei, Bardin.«
»Vielleicht«, Belliesa zuckte mit den Schultern. »Wenn dem so ist, dann ist das letzte, was jetzt noch Bedeutung hat, wie man nach dem Tod von uns sprechen wird. Nur diese Entscheidung liegt noch allein bei uns.«
»Worauf willst du hinaus?« Der Eber musterte sie lauernd, ganz so, als ahne er plötzlich, daß er ihr in die Falle getappt war.
»Zeig uns die Mine! Wenn sie so beschaffen ist, wie ich hoffe, gibt es vielleicht eine Möglichkeit, die letzten deiner Männer zu retten. Und je nachdem, wie du dich entscheidest, wirst du etwas bekommen, was man für Gold nicht kaufen kann. Du kannst dein vorheriges Leben mit einer einzigen Tat auslöschen und dafür Sorgen, daß man noch in hundert Jahren deinen Namen mit Ehrfurcht nennen wird. Nimm dir die Nacht über Zeit, dir wohl zu überlegen, was du tun willst. Wenn du es schaffst, den Eingang des Turmes für eine Stunde allein gegen die Soldaten Ricchars zu verteidigen, dann werde ich vielleicht alle anderen retten können.«
Der Eber zog eine spöttische Grimasse, doch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Belliesa fort. »Schweig und denke über mein Angebot nach. Du weißt, daß es sinnlos, ist mit dem Grafen zu verhandeln. Wir sind nicht mehr in der Position, irgendwelche Forderungen zu stellen. Er ist sich völlig sicher, daß nichts auf Erden seinen Sieg noch verhindern kann. Selbst wenn du jetzt darüber nachdenken solltest, uns an Ricchar zu verraten, sei dir gewiß, du würdest keinen Gewinn daraus ziehen. Du hast zu lange an unserer Seite gefochten. Er wird auch deinen Kopf auf einer Lanzenspitze sehen wollen. Uns allen bleibt nur noch die Wahl, zu entscheiden, auf welche Weise wir sterben wollen. Bedenke dies gut, und bring uns jetzt zum Eingang der Mine!«
21. KAPITEL
Müde hockte Volker neben Belliesa und sah der Bardin bei den Vorbereitungen zu, die sie traf. Die ganze Nacht über hatten sie die Menschen aus dem Dorf in die Stollen des Bergwerks unter dem Turm getragen. Auch alle Verwundeten waren aus der Festhalle dort hinunter gebracht worden. Es war elend feucht und kalt in den Gängen, aber sie durften kein Feuer machen. Der Rauch wäre durch die Höhlen in der Steilklippe ins Freie getreten und hätte Ricchars Männern den Weg zu ihnen gewiesen. Der Eingang zu den Stollen lag im untersten Geschoß des Turmes und war sorgsam unter morschen Brettern verborgen. Wenn man nicht gezielt nach ihm suchte, dann mochte man höchstens zufällig auf ihn stoßen. Dennoch war Volker skeptisch, ob die Franken auf die List, die Belliesa ersonnen hatte, hereinfallen würden. Er blickte zum Eber, der breitbeinig im niedrigen Tor zum Turm stand. Ricchars Männer würden es schwer haben, an ihm vorbeizukommen. Die Treppe, die an der Außenwand des Turms zum einzigen Eingang führte, war so schmal, daß die Angreifer einzeln, hintereinander hinaufsteigen mußten. Das Tor aber war so niedrig, daß man sich ducken mußte, wenn man eintrat. Gleichzeitig mußte der Besucher über eine hohe Schwelle hinwegsteigen, so daß jeder Eindringling in eine Körperhaltung gezwungen wurde, in der man sich nur noch sehr schlecht verteidigen konnte. Durch Bogenschützen oder Speerwerfer wäre dem Eber fast nicht beizukommen, denn sein Körper wurde so gut wie gänzlich von seinem großen Rundschild verdeckt, wenn er am Eingang stand. Trotzdem wäre es nur eine Frage der Zeit, bis die Franken in den Turm eindrangen. Irgendwann würden die Kräfte des Verteidigers erlahmen. Der Eber wußte das. Ihm war klar, daß er sich auf den sicheren Tod eingelassen hatte. Volker hatte allerdings auch den Eindruck, daß der Gesetzlose sich darauf freute, noch ein oder zwei Dutzend Franken und Sachsen zur Hölle zu schicken, bevor er starb.
Der Spielmann musterte den großen runden Raum, der das ganze erste Geschoß des Turms einnahm. Sie hatte alle Möbel herausgeworfen und den Boden gefegt. Nur eine gefesselte schwarze Ziege und der Leichnam Mechthilds befanden sich außer ihnen noch im Turmzimmer. Links von Volker klaffte das Loch, in dem eine Leiter zum Erdgeschoß führte. Von dort gelangte man über eine Treppe in den Keller, wo sich der verborgene Eingang zur Mine befand. Wenn sie hinabstiegen, würden sie die hölzerne Leiter mitnehmen. Wer dann ins Erdgeschoß wollte, würde sich abseilen müssen, denn es gab in der ganzen Siedlung keine Leiter, die lang genug war, um hinunterzureichen.
»Wie ist es, einen Mann zu ermorden?« Der Spielmann sprach leise, und er blickte nicht auf, um Belliesa anzusehen.
»Wovon redest du?«
»Hatte der Eber eine andere Wahl, als sich für den Tod zu entscheiden?«
»Du willst mir doch jetzt nicht sagen, du hättest Mitleid mit ihm.« Belliesa füllte in die Tonschalen, die vor ihr standen, ein gelbes Pulver. »Ich habe ihm einen Weg gezeigt, zum Helden zu werden. Das hat er sich gewünscht...«
»Hat er?«
Der Eber drehte sich zu ihnen um. Er war zu weit entfernt, um die leise Unterhaltung mitgehört haben zu können. »Sie kommen! Die ersten fränkischen Späher sind im Dorf. Sie scheinen sehr verwundert zu sein, auf keinerlei Widerstand zu stoßen.«
Die Bardin warf Volker einen vielsagenden Blick zu. Der Spielmann verstand und schwieg. Er blickte auf das riesige Pentagramm, das Belliesa auf den Boden des Turmzimmers gemalt hatte. Mit einer Spitze zeigte es genau auf den Eingang. Die Bardin war inzwischen aufgestanden und verteilte die kleinen Räucherpfannen, die sie vorbereitet hatte, an den Schnittlinien des Pentagramms.
»Leg Mechthild in die Mitte!«
Volker erschauerte und murmelte ein leises Gebet. Durfte er als Christ sich an einem solchen Possenspiel beteiligen? Die Bardin plante, den Raum so herzurichten, daß er aussah, als habe man ein schwarzmagisches Ritual abgehalten. Da sie bei den Franken als Zauberin verurteilt worden war, würden zumindest die einfachen Soldaten auf diesen Trick hereinfallen und es nicht wagen, den Turm zu betreten. Vor allem aber war so eine Erklärung für das spurlose Verschwinden aller Verteidiger außer dem Eber gegeben. Wenn sie diese Lösung vor Augen hatten, würden sie vielleicht nicht mehr allzu aufmerksam nach einem anderen Fluchtweg suchen. Womöglich würde sogar Ricchar sich damit abfinden. Er brauchte einen schnellen Sieg, wenn er zum Christfest seinen Triumph feiern wollte.
»Mach schon«, herrschte ihn die Bardin an. Sie hatte inzwischen damit begonnen, die Räucherschalen in Brand zu setzen.
Widerwillig beugte der Spielmann sich über den Leichnam des Mädchens. Man hatte ihr das Leichenhemd wieder ausgezogen. Es sollte so aussehen, als habe man einem Dämonen eine Jungfrau geopfert. Die Ziege meckerte ängstlich, so, als ahne sie, was ihr bevorstünde.
Die Tote war schon ganz steif. Vorsichtig nahm Volker sie auf den Arm. Ob Mechthild noch leben würde, wenn er sie damals bei dem Gehöft zurückgelassen hätte? Behutsam legte der Spielmann den Leichnam in der Mitte des Pentagramms nieder. Dann holte er die Ziege und legte sie neben das Mädchen.
»Heho, ihr Bastarde! Seht ihr mich nicht? Kommt her, hier wartet der Tod auf euch!« brüllte der Eber lauthals.
Belliesa kniete sich neben Volker. »Mach! Wir haben nicht mehr viel Zeit. Sie sollen uns hören und den Gestank des Schwefels riechen! Dann müssen wir hier so schnell wie möglich fort. Allein die Götter wissen, wie lange der Eber durchhalten wird.«
Der Spielmann zog sein Messer und schnitt der Ziege die Kehle durch. Er hob das zuckende Tier hoch und verspritzte sein Blut über den Leichnam des Mädchens. Dabei betete er stumm. Wohin hatte ihn der Befehl seines Königs nur gebracht!
Einige Pfeile schlugen in den Eingang ein. Der Eber hatte sich hinter seinen Schild geduckt.