Belliesa beugte sich über eine der Räucherschalen. Aus den Augenwinkeln sah Volker, wie sie etwas hineinwarf, das die Flammen auflodern ließ.
»Ich erhebe die Fackel, ich verbrenne die Figuren
des utukku, des shedu, des Hockers, des Totengeistes,
der lamashtu, des labahsu, des Packers,
des Nachtmännchens, des Nachweibchens, der Nachtmagd
und alles Bösen, was die Menschen packt.
Zertropft, zerrinnt und zerfließt!
Euer Rauch steige zum Himmel empor!
Eure Aschenglut lösche die Sonne!«
Einen Atemzug lang verstummte die Bardin. Vom Tor ertönte Kampflärm. Die ersten Angreifer waren die Treppe hinaufgekommen. Belliesa erhob sich. Sie öffnete einen kleinen Gürtel an ihrem Beutel und verstreute einige getrocknete Blätter über dem Leichnam des Mädchens. Der Raum war inzwischen angefüllt mit erstickendem Schwefelgeruch. Volker stand der blanke Angstschweiß auf der Stirn. Unablässig betete er zur Jungfrau Maria. Da erhob Belliesa erneut ihre Stimme. Sie griff nach ihrem Hals und holte eine flammend rote Feder unter ihrem Mieder hervor. Die Bardin sprach so laut, daß Volker glaubte, den Boden erbeben zu spüren. Er preßte sich die Hände auf die Ohren, um die Anrufungsformel nicht hören zu müssen. Doch es nutzte nichts.
»Komm, Typhon, der du auf dem oberen Tor sitzt,
Io, Erbeeth, Seth, Baphometh, Logos!
Wie Ihr verbrannt und im Feuer verzehrt werdet,
so sollen auch die Seele und das Herz des Ricchar,
Sohn des Odoaker, verbrannt werden!
Mögen Eure Flammen das Fleisch von seinen Knochen schmelzen,
denn er ist nicht das Licht! Also muß er im Lichte vergehen!«
Erschöpft sank die Bardin in sich zusammen. Es schien, als ballten die öligen Rauchfahnen, die von den Feuerschalen aufstiegen, sich plötzlich über der Mitte des Pentagramms zusammen.
Volker zerrte Belliesa aus dem Bannkreis. »Was hast du getan?«
»Das wirst du... später sehen!« keuchte sie. Ihre Augen waren von einem Netz geplatzter Adern durchzogen. »Wir müssen jetzt nach unten. Schnell!«
Als Golo erwachte, kauerte Volker an seiner Seite. Noch bevor der Ritter ein Wort über die Lippen brachte, preßte der Spielmann ihm seine Hand auf den Mund.
»Ganz ruhig!« flüsterte Volker. »Du lebst! Und der Mord an Mechthild ist gerächt. Der Eber ist jetzt tot.« Langsam zog Volker seine Hand zurück.
Golo blickte sich verwundert um. Sie befanden sich in einem niedrigen Gang. Dicht neben ihnen brannte ein Öllämpchen, dessen kleine Flamme nicht reichte, um die Dunkelheit mehr als einen Schritt weit zurückzudrängen.
»Wir sind in den Stollen unter dem Turm des Ebers«, erklärte Volker. »Der Zugang hierher ist verborgen. Doch wir müssen still sein, um die Krieger Ricchars nicht auf uns aufmerksam zu machen, falls sie den Turm doch noch durchsuchen.«
»Was ist mit mir geschehen?« Der junge Ritter schüttelte verwirrt den Kopf. Dann erinnerte er sich wieder daran, wie Mechthild in seinen Armen gestorben war. Er ballte die Fäuste zusammen. Der Eber! Er sollte verrecken!
»Wo steckt der Gesetzlose? Und wie komme ich hierher?«
»Ich sagte es dir doch schon. Er ist tot! Du warst ohnmächtig. Belliesa hat dir einen Zaubertrank gegeben, damit du schlafen konntest.«
»Ich wollte nicht schlafen! Ich...«
Irgendwo in der Finsternis ertönte ein durchdringender Schrei. Das Heulen eines Säuglings. Fast sofort wurde dessen Stimme erstickt, doch es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis der Schrei nicht mehr von den Wänden der Stollen widerhallte. Volker fluchte leise. »Komm mit!«
Golo streckte seine steifen Glieder, während Volker die Öllampe nahm und tiefer in den Tunnel kroch.
»Wohin willst du?«
Der Spielmann antwortete nicht.
Müde folgte ihm Golo. Sein Magen schmerzte. Wenn er sich nur daran erinnern könnte, was geschehen war. Er hatte mit Belliesa gesprochen...
Unvermittelt hielt Volker an. Die Decke war inzwischen hoch genug, daß man aufrecht gehen konnte.
»Sei vorsichtig!« Der Barde wies auf den Boden. Quer über den Gang lagen einige morsche Bretter. »An manchen Stellen gibt es Schächte, die in die Tiefe führen.«
Mit einem weiten Schritt stieg Golo über die gefährliche Stelle hinweg. Ein Stück weiter kauerte eine Frau, die einen Säugling auf den Armen hielt. Volker stand vor ihr und hielt die Öllampe hoch, so daß dem Kind der Schein des Flammchens ins Gesicht fiel. »Er war es, nicht wahr!«
»Ich hatte ihn nur einen Moment lang auf den Boden gelegt... Ich dachte, er sei eingeschlafen. Bitte... Es wird nicht wieder vorkommen. Ich geb’ ihn nicht mehr aus den Armen.« Die Frau schien regelrecht in sich zusammenzusinken, während sie sprach.
Volker starrte noch immer auf das Kind. Es hatte ein rotes, runzeliges Gesicht. »Ich wußte, daß du das tun würdest. Wir hätten dich im Schnee lassen sollen. Du hättest nicht mehr leben dürfen...«
Golo sah seinen Gefährten entgeistert an. Was meinte er damit? Volkers Hand war zum Dolch an seiner Seite geglitten.
»Es wird nicht... wieder vor... kommen«, murmelte die Amme ängstlich.
Abrupt wandte sich der Spielmann um und zeigte den Gang hinunter. Golo sah undeutlich einen grauen Fleck Himmel.
»Dort ist einer der Ausgänge. Eine Öffnung mitten in der Steilwand. Sieh nach, ob du etwas Verdächtiges entdecken kannst.«
»Und du?«
Volker sah zu dem Kind. »Ich habe hier noch etwas zu erledigen.«
Der junge Ritter schluckte. Doch er stellte seinem Kameraden keine Fragen. Mit langen Schritten eilte er den Gang hinunter. Hinter sich hörte er undeutlich Volkers Stimme.
Als er die Öffnung im Felsen fast erreicht hatte, ging er in die Hocke. Vorsichtig näherte er sich dem Rand. Unter ihm reichte die Steilwand fast dreißig Schritt senkrecht in die Tiefe. Von hier aus könnten sie unmöglich angegriffen werden. Es gab allerdings auch tiefer im Fels Höhlungen, die offenbar zu Stollen der alten Mine gehörten.
Suchend wanderte Golos Blick über die nahen Hügel und Wälder. Alles schien ruhig. Er wollte sich schon wieder zurückziehen, als er auf eine flüchtige Bewegung im Schneefeld unterhalb der Steilklippe aufmerksam wurde. Er kniff die Augen zusammen, um im grauen Licht des wolkenverhangenen Wintertages besser sehen zu können. Es gab zwei dicht beieinanderliegende Flecke, wo der Schnee ein wenig gelber aussah.
Der junge Ritter ließ sich auf dem Bauch nieder und robbte bis ganz zum Rand der Klippe. Etliche Herzschläge lang gab es nichts Verdächtiges zu sehen. Doch dann kam Bewegung in einen der Flecke. Es war ein Mann, der ganz in weiße Schafsfelle eingehüllt war! Er wies den Felshang hinauf und schien auf einen zweiten Mann einzureden. Zwei Sachsen. Sie hatten etwas bemerkt! Der junge Ritter fluchte. Vielleicht täuschte er sich ja, doch es war besser, Volker und die anderen zu warnen. Wenn die beiden die ganze Zeit über dort unten gewesen waren, dann mußten sie den Schrei des Kindes gehört haben.
»So viel Pech kann man gar nicht haben«, flüsterte Volker mit gepreßter Stimme, doch war er nicht wirklich von seinen Worten überzeugt.
Eine Stunde mochte vergangen sein, seit Golo von seinem Spähposten zurückgekehrt war. Sie hatten sich sofort auf den Weg zu jenem Stollen gemacht, der im Keller des Turms endete. Dort warteten sie, doch bislang war nichts Auffälliges geschehen.
»Vielleicht haben sie den Schrei ja nicht gehört?«
Volker bedachte Golo mit einem zweifelnden Blick. »Die Sachsen sind Ricchars Späher. Das sind Männer, die in den riesigen Wäldern auf der anderen Seite des Rheins leben und jagen. Sie werden wissen, was es zu bedeuten hat, und...« Hinter den Brettern, die den Eingang zum Stollen tarnten, waren Geräusche zu hören. Schritte. Auch gedämpfte Stimmen. Einen Augenblick lang klangen sie ganz nah, dann entfernten sie sich wieder.