Der Spielmann wollte schon aufatmen, als er plötzlich ganz deutlich eine Männerstimme hörte. »Hier muß es sein.« Es folgten Axtschläge und das Krachen splitternden Holzes.
Der Spielmann gab Golo ein Zeichen, sich mit ihm ein wenig tiefer in den Tunnel zurückzuziehen.
»Ein Gang!« hallte es dumpf von den Wänden des Stollens wieder. Das leise Tappen von Schritten folgte.
Volker und Golo hatten hinter einer scharfen Biegung des Stollens haltgemacht. Hier würden sie ihre Verfolger auf jeden Fall überraschen können.
Der erste Krieger, der um die Ecke kam, brachte nicht einmal einen Schrei über die Lippen. Der Spielmann tötete ihn mit einem Stich durch die Kehle. Mit Schrecken sah Golo das Lächeln auf den Lippen des Barden. Was war aus ihm geworden? Oder war er es, der sich so sehr verändert hatte? Golo packte den Mann und zog ihn um die Ecke, damit er seinen Kameraden nicht vor die Füße fiel.
Den nächsten von Ricchars Soldaten trafen sie gleichzeitig. Doch jetzt hatten die anderen Franken etwas bemerkt. Alarmschreie gellten durch den Stollen. Ein riesiger Kerl mit einer zweihändig geführten Axt trat ihnen entgegen. Er ließ seine Waffe vor sich hin und her schwingen, so daß sie nicht an ihn herankamen.
»Zurück«, zischte Volker leise. »Hinter uns wird der Gang etwas breiter. Dort kriegen wir ihn.«
Ohne den Hünen aus den Augen zu lassen, machte Golo ein paar Schritt rückwärts. Der Franke grinste triumphierend. Offenbar glaubte er, schon gewonnen zu haben.
Volker versuchte einen Ausfallschritt zur Seite und führte einen Stich nach dem Bein des Gegners, doch der Krieger wich geschickt aus und seine Axt verfehlte den Spielmann nur um Haaresbreite. Mit einem Satz nach hinten brachte der Barde sich in Sicherheit. »Halt ihn einen Moment auf! Ich habe einen Plan.« Volker zog sich zurück.
Der junge Ritter fluchte. Diesen Riesen aufzuhalten war so aussichtsreich, wie mit ausgebreiteten Armen eine Lawine auffangen zu wollen. Zu allem Überfluß änderte der Bastard jetzt auch noch seine Strategie. Der Franke wollte ihn offenbar mit einem einzigen gewaltigen Hieb niederstrecken. Golo warf sich zur Seite. Die Schneide der Axt verfehlte ihn so knapp, daß er ihren Luftzug auf dem Gesicht spüren konnte. Krachend fuhr die Waffe in den Boden. Ein splitterndes Geräusch ertönte. Der Boden bebte unter seinen Füßen. Im selben Augenblick traf den Franken Volkers Dolch in die Brust.
Golo machte einen hastigen Schritt zurück. Der Hüne fiel wie vom Blitz gerührt vornüber. Auch der Boden stürzte nach vorne. Golo ließ sein Schwert fallen. Verzweifelt versuchte er irgendwo Halt zu finden. Hinter sich hörte er Volker schreien. Inmitten splitternder Bretter und Balken stürzte er in die Tiefe. Sie hatten auf einem der abgedeckten Schächte gestanden!
Golo schrammte an der Felswand entlang. Der Aufprall preßte ihm die Luft aus den Lugen. Dann verschlang ihn eisiges Wasser. Das Gewicht seiner Pelze und Wollkleider zog ihn tiefer und tiefer. Wild mit den Armen um sich schlagend versuchte er wieder zur Wasseroberfläche zu kommen. Er riß sich den Pelzumhang von den Schultern. Etwas streifte ihn an der Stirn. Endlich schaffte er es, prustend aufzutauchen. Rings um ihn prasselten noch immer Bretter und Felsstücke in das Wasser. Es war fast völlig finster. Nur weit über ihnen, dort, wo sie eingebrochen waren, schimmerte schwaches Licht.
Keuchend stieß Volker neben ihm durch das Wasser. »Wir müssen... hier raus! Oder die Kälte... tötet uns!« Er zeigte auf eine dunkle Stelle an der Felswand.
Paddelnd versuchte Golo dorthin zu gelangen. Seine Kleider waren schwer wie Blei, und ihm schien es, als wollten ihn unsichtbare Hände in die Tiefe ziehen. Volker war vor ihm angekommen. Er zog sich aus dem Wasser. Ein Tunnel endete neben dem Brunnenschacht. Der Ritter war am Ende seiner Kräfte. Es war vorbei. Er konnte nicht mehr kämpfen!
»Pack das!« Volkers Stimme schien ihm unendlich weit fort. Etwas stieß grob gegen Golos Schulter. Der Spielmann hielt ihm ein zersplittertes Brett hin.
»Halt dich fest! Ich ziehe dich heraus!«
Mehr im Reflex als bewußt griff er nach dem Brett. Seine Finger waren taub vor Kälte. Fast vermochte er sie nicht mehr zu krümmen, um sich festzuhalten. Wenn er jetzt einfach losließ, wäre er bald wieder mit Mechthild vereint. Er spürte, wie er gepackt wurde. Volker zerrte ihn aus dem Wasser. Golos Kopf sank nach hinten in den Nacken. Ein glühender Stern fiel aus der Finsternis hinab. Der Spielmann hatte ihn jetzt vollends ins Trockene gezogen. Zischend verlosch der Stern hinter ihnen im Wasser.
Golo klapperten die Zähne. Es war so kalt! Volker preßte ihm die Hand auf den Mund. »Leise«, raunte er mit zitternder Stimme. »Sie werfen Fackeln hinab, um zu sehen, ob wir überlebt haben. Wir müssen tiefer in den Gang hinein.«
Der Stollen, der vom Brunnenschacht wegführte, war so niedrig, daß sie auf allen vieren kriechen mußten. Manchmal waren sie sogar gezwungen, auf dem Bauch zu robben, und schrammten dabei noch mit dem Rücken an der Tunneldecke entlang. Golo wurde immer langsamer. Die Kälte drohte den Lebensfunken in ihm verlöschen zu lassen. Er hatte keine Kraft mehr, dagegen anzukämpfen, und er sah auch kein Ziel, für das es sich noch zu leben lohnte.
Als sie eine größere Höhle erreichten, blieb er einfach liegen. Volker zerrte ihm die Kleider vom Leib und sagte dabei etwas, doch der junge Ritter machte sich nicht mehr die Mühe hinzuhören. Es war so kalt. Ein Licht zerteilte die Finsternis und wurde größer. Er kroch ihm entgegen. Von dem Licht ging Wärme aus. Zitternd streckte er ihm die Hände entgegen. Ein Feuer! Sie waren gerettet!
Volker saß nackt neben dem kleinen Feuer und rieb sich die Arme. Er war in den Stollen zurückgekrochen und hatte eine der Engstellen verstopft, damit kein verräterischer Rauch durch den Brunnenschacht aufsteigen konnte. Golo lag neben dem Feuer und schlief. Mit einem kurzen Gebet an den Herren bedankte sich der Spielmann für ihre Rettung. Sie wären nicht mehr weit gekommen, wären sie nicht auf diese Höhle gestoßen. Sie mußte einst eine Vorratskammer des Bergwerks gewesen sein. In der Mitte der Höhle befand sich ein Kreis aus rußgeschwärzten Steinen. Offenbar hatte man den Platz auch früher schon genutzt, um Feuer zu machen.
An den Wänden lag trockenes Brennholz gestapelt, und in einem hölzernen Kasten hatte es sogar Zunder und Reisig gegeben. Daneben standen etliche Tonkrüge, die vielleicht einmal mit Wasser und Met gefüllt gewesen waren. Doch jetzt war in ihnen nur noch Staub. In zwei Gefäßen fanden sich die verrotteten Reste von Weizen und Dinkel. Alle Krüge hatte man mit flachen Schalen abgedeckt, deren Wände mit geritzten Spiralmustern oder schlanken Hirschen und Jägern verziert waren.
Auf dem Boden der Höhle lagen ein paar rostige Werkzeuge. Dazwischen Scherben von zerbrochenen Tongefäßen und Öllampen. In einer Ecke hatte Volker einen ganzen Haufen Kiefernzapfen gefunden, die offenbar einmal in eine klebrige Substanz getränkt gewesen waren. Daneben waren Fackeln auf dem Boden verstreut. Dem Spielmann blieb viel Zeit, um sich in der Höhle umzusehen. Golo schlief wie ein Toter.
Allmählich begann ihn Hunger zu plagen. Es waren viele Stunden vergangen, seit er das letzte Mal gegessen hatte. Auch wurde er langsam immer müder, doch getraute er sich nicht, sich an diesem Ort schlafen zu legen. Der Spielmann hatte das unbestimmte Gefühl, daß es kein Zufall war, daß sie beide an diesen Ort gelangt waren. Würde es sich nicht verrückt anhören, dann würde er sogar sagen, die Höhle hatte auf sie gewartet. Vielleicht war sie vor vielen Jahren darauf vorbereitet worden, anderen Verfolgten Zuflucht zu gewähren. Doch diese anderen schienen niemals hierhergekommen zu sein.