»Du hättest mich rufen sollen, mein Ritter. Ich bin lange Zeit an deiner Seite geritten und habe über dich gewacht.« Goldenes Licht umspielte die Gestalt Belliesas. »Ich war der Märchenerzähler, der am Hof in Worms gesprochen hat, die Flammengestalt, die dich in Castra Bonna besuchte, und das sterbende Mädchen, das dich in den Bergen vor dem Erfrieren rettete. Du warst mein Auserwählter!«
»Aber wir haben verloren... Unser Schicksal ist besiegelt.«
Belliesa schüttelte den Kopf, und ihr rotes Haar erschien ihm wie Flammenzungen. »Besiegelt ist unser Schicksal... Ja! Doch so, wie im Sommer Ricchars Falke aus dem Himmel stürzte, nachdem er meine glühenden Schwingen berührte, so wird morgen der Fürst selbst stürzen. Sein letzter Mord wird ihn zu Fall bringen! Wenn er das Feuer entfacht, meinen Leib zu zerstören, dann werden meine Schwestern, die Windsbraut und die gehörnte Herrin der Erde, seinen Hochmut strafen...«
Volker hatte das Gefühl zu stürzen. Immer weiter entfernt klang die Stimme der Bardin. Er durfte sie jetzt noch nicht verlieren! Nicht bevor er zweite Frage gestellt hatte. »Sag mir, Feuervogel, wie werde ich meine Liebste wiederfinden?«
»Besiege die Kälte in dir, und du wirst sie in jenem fernen Königreich finden, wo das Land und das Wasser eins sind. Sie hat die Drei vergessen, die in ihr wohnten, und auch dich, der du mit ihr vermählt wurdest. Wenn der Ritter stirbt, wird der unscheinbare Wanderer sie wiedergewinnen. Doch hüte dich vor den drei Schwestern, die das Wasser und auch das Land sind. Schwarz, weiß und rot, so ist der Tod...«
Der Spielmann mochte den Worten nicht weiter zu folgen. Etwas Kühles berührte seinen Hals. Dann schlief er ein.
23. KAPITEL
In der Stadt herrschte eine gedrückte Stimmung. Golo war am späten Nachmittag in Icorigium eingetroffen. Sein neues Schwert hatte er auf den Rücken geschnallt und unter seinem Umhang verborgen. Die Wachen an den Toren kontrollierten nur sehr nachlässig. Die Krieger waren die einzigen, die guter Dinge waren. Ricchar wollte nach den Hinrichtungen ein großes Fest feiern lassen. Es sollte Fleisch für alle Soldaten und Bürger in der Stadt geben. Hundert Stiere wollte man schlachten. Sie sollten dem Götzen Mithras geopfert werden.
Die Straßen wimmelten vor Menschen. Von überall her waren sie gekommen, um dem Tod des Auserwählten und der Bardin beizuwohnen. Doch im Gegensatz zu anderen Fest- und Markttagen hörte man nirgends ein Lachen oder Lieder. Wenn die Menschen miteinander sprachen, taten sie es leise. Die weitaus meisten jedoch waren stumm und starrten vor sich hin.
Golo betrat durch jenes Tor die Stadt, über das man den Kopf des Ebers auf einen Pfahl aufgespießt hatte. Er verharrte dort und spuckte aus. Zu spät hatte den Schurken sein Schicksal ereilt. Und zu einem Helden hatte man ihn gemacht!
Der Ritter mußte einen weiten Umweg machen, um zum Marktplatz zu gelangen. Man hatte eine der Hauptstraßen abgesperrt und dort die Stiere zusammengetrieben, die in dem Ritual, das auf die Hinrichtung folgen würde, geopfert werden sollten. Woher Ricchar wohl all diese Tiere genommen hatte? Hundert gut genährte Stiere... Und das mitten im Winter. Der Fürst wollte den Unterworfenen seine Macht demonstrieren! Zeigen, daß für ihn, den Günstling des Götzen Mithras, nichts unmöglich war.
Schwarz vor Menschen war der Marktplatz im Herzen der Stadt. Voller schweigender Gesichter, die Augen gefangen von den zwei hohen hölzernen Gerüsten. Jeder sollte sehen können, was jenen widerfuhr, die sich gegen den Grafen erhoben hatten. Auf dem rechten Gerüst stand ein Eichenpfahl mit Ketten inmitten hoher Reisigbündel. Das andere aber war leer bis auf den hölzernen Richtblock, in den das Schwert des Henkers schaurige Narben geschnitten hatte. Soldaten in schimmernden Rüstungen und mit ehernen Masken auf den Gesichtern waren rings um den Richtplatz aufgezogen.
Verloren inmitten der Menschen blickte Golo zum Himmel. Finstere Wolken zogen von Westen heran. Schwarz wie die Nacht, bereit, das blasse Licht des Winterhimmels gänzlich zu verschlingen. Der Schrei eines Stieres zerriß die laute Stille auf dem Platz, klang über Raunen und halb erstickten Flüchen. Man darf einem Unrecht niemals unwidersprochen beiwohnen. Sieg oder Niederlage sind unwesentlich... Das hatte Volker zu ihm gesagt, als sie vor so langer Zeit zum ersten Mal in diese Stadt gekommen waren. Auch damals schon hatte auf diesem Platz ein Scheiterhaufen gestanden. Belliesa war als Zauberin angeklagt... Golo atmete tief ein. Was wohl geschehen wäre, wenn sie nur eine Stunde später gekommen wären. Er war der Ansicht, daß sie zu Recht dort oben gestanden hatte. Sie war ihm nicht geheuer... Und ohne sie müßte Volker heute nicht den Weg zum Richtblock antreten. Damals hatte der Spielmann ihn einen schlechten Ritter gescholten. Einen, der zwar die goldenen Sporen trug, doch der vom Geist des Rittertums unberührt geblieben war.
Golo tastete nach dem Schwert unter seinem Umhang. Volker war zu Unrecht verurteilt. Er war ein Opfer. Verführt von der Bardin! Mit ihren Liedern hatte sie es zuletzt geschafft, daß er den spielen mußte, der er nie sein wollte. Den Auserwählten! Den Anführer des Aufstandes gegen Ricchar. Belliesas Tod kümmerte den jungen Ritter nicht. Doch wenn der Henker das Schwert aufnahm, den Spielmann zu richten, dann würde er auf den Platz treten und Volkers Kläger herausfordern, schwor sich Golo. Gott würde ihm zur Seite stehen. Es war Unrecht, den Barden zu töten. Und wenn Volker schon sterben mußte, dann würden sie diesen letzten Weg gemeinsam gehen.
Der junge Ritter preßte entschlossen die Lippen zusammen. Dann drängte er sich durch die Menschenmenge, bis er ganz vorne war, direkt hinter den Soldaten, die um die Henkersgerüste standen.
Von Ferne ertönte dumpfer Trommelklang. Bald würde der Wagen mit den Verurteilten auf den Platz kommen.
Volker war so schwach, daß man für ihn einen Lehnstuhl auf die Pritsche des Leiterwagens gestellt hatte. So wie Belliesa trug auch er nur ein dünnes Büßerhemd, doch spürte er die Kälte des Winternachmittages kaum. Der Trank des Heilkundigen mußte ein Gift enthalten haben, das ihn halb im Traum gefangen hielt. Wie ein Meer weißer Flecken zogen die Gesichter an ihm vorbei. Etwas war an seinem Hals. Er griff danach. Ein Amulett aus Gold, daß ihm die Henkersknechte nicht abgenommen hatten. Es zeigte eine kniende Frau, die Arme mit mächtigen Vogelschwingen daran ausbreitete. Belliesa hatte dieses Amulett getragen.
Er blickte zu ihr. Sie stand vor ihm, stolz, hoch aufgerichtet. Man hatte sie im Gegensatz zu ihm in Ketten gelegt, so, als fürchte Ricchar, sie könne ihm immer noch entfliehen. Die Bardin blickte zum Himmel, als erwarte sie ein Zeichen. Schwarze Wolken zogen der Stadt entgegen. Es war der kürzeste Tag des Jahres, und wie es schien, würde er sogar noch vor seiner Zeit zu Ende gehen.
Der Spielmann war völlig ruhig, als der Wagen den Richtplatz erreichte. Dies alles mußte ein böser Traum sein. Er war Volker von Alzey, Ritter König Gunthers. Man würde ihn nicht einfach wie einen Strauchdieb hinrichten. Es war sein Schicksal, nach Aquitanien zurückzukehren und dort erneut nach der Morrigan zu suchen. Was hatte Belliesa auch gesagt? Wenn der Ritter stirbt, wird der unscheinbare Wanderer sie wiedergewinnen!
Zwei Männer stiegen auf den Wagen. Sie mußten ihm aufhelfen. Seine Beine waren schwer wie Blei. Der Ritter mußte sterben... Die beiden Henkersknechte brachten ihn auf eines der hölzernen Gerüste. Er bekam eine Krücke, auf die er sich aufstützen konnte. Belliesa hatte man auf dem anderen Gerüst mit ihren Ketten an einen Pfahl gebunden. Sie sah wunderschön aus. Ihr flammend rotes Haar schien in dem grauen Licht von innen heraus zu glänzen. Volker war völlig gefangen von diesem Bild.