»Ich vertraue darauf, daß sich die Gerechten niemals feindselig gegenüberstehen. Die Kräfte des Guten werden sich vereinen, um sich der Finsternis entgegenzustellen.«
»Und die burgundischen Truppen, gegen die du im letzten Jahr gekämpft hast? Verkörpern sie für dich die Finsternis? Wie kannst du uns dann an deiner Tafel empfangen?«
»Ein Dichter wie du steht immer für das Licht und die Weisheit. Es wird Zeit, daß die Fürsten den Weisen und den Epikern wieder die Achtung zollen, die ihnen zusteht. Außerdem warst du im letzten Jahr nicht in die Kämpfe verwickelt. Ich denke, daß dies nicht Zufall, sondern Bestimmung war.«
Volker lächelte. Er mochte den jungen Fürsten, auch wenn er ihm in vielem seltsam erschien. Doch war es nicht immer schon so, daß die großen Denker ihren Zeitgenossen seltsam erschienen? Ein Feldherr, der sich ebensosehr für die Dichtkunst wie für den Krieg interessierte, wo gab es so etwas in diesen Zeiten noch?
»Und was willst du mit deiner Armee?« warf Golo ein. »Was für ein Unterschied besteht zwischen Etzel und seinen Horden und euch Franken, wenn ihr erobernd und plündernd durch die Lande zieht? Die Bauern werden für euren Hochmut und eure prächtigen Kriegszüge bezahlen müssen. Wo ist der Unterschied, ob man den Zehnten an einen hunnischen Heiden entrichtet oder an einen dichtenden Frankenfürst?«
»Dein Freund hat eine scharfe Zunge, Volker. Doch ich schätze es, wenn Männer den Mut haben, mir ihre Meinung ins Gesicht zu sagen.«
Der Spielmann warf Golo einen zornigen Blick zu. Volker war sich nicht im klaren darüber, was seinen Freund an Ricchar störte, doch würde es noch ein schlimmes Ende nehmen, wenn er sich weiterhin derart im Ton vergriff. Die meisten burgundischen Adeligen, die Volker kannte, hätten angesichts solcher Frechheiten schon längst die Gesetze der Gastfreundschaft vergessen.
»Wenn der Burgundenkönig dir zuwenig Sold zahlen sollte, wärest du mir stets unter meinen Reitern willkommen. Ich brauche Männer wie dich, die frei denken und sich vor nichts fürchten. Ich würde dich im Rang eines Decurios in meine Truppen aufnehmen und eine Turma deinem Kommando unterstellen. Glaubst du, du könntest zweiunddreißig Reiter kommandieren?«
Golo räusperte sich verlegen. »Ich habe Gunther die Treue geschworen! Ich kann seinen Dienst ohne seine Zustimmung nicht verlassen. Willst du meine Treue auf die Probe stellen? Warum machst du mir ein solches Angebot?«
»Weil ich einen Mann unter meinen Offizieren haben möchte, der die Rechte der Bauern achtet. Ich weiß, daß du mich nicht magst, Golo, aber es ist mir gleichgültig, was du denkst. Deine Dienste können mir nützlich sein, und das ist alles, was zählt. Ich will kein neuer Alexander oder Cäsar sein, so wie es mir meine Feinde am Königshof vorwerfen. Was heißt es schon, ein großer Eroberer zu sein... Es geht um mehr! Das Reich der Römer ist zerschlagen, die germanischen Stämme untereinander zerstritten. Wir haben vieles falsch gemacht, als wir die Römer vertrieben haben. Sieh dir nur diese Stadt an. Hier haben einst viele tausend Menschen gelebt. Jetzt sind es nur noch ein paar hundert. So sieht es überall im Land aus. Wir brauchen eine starke Armee, sie ist der Schlüssel dazu, uns eine bessere Zukunft zu schaffen. Doch es geht nicht darum, irgendwelche Städte zu brandschatzen und mit reicher Beute hierher in die Ruinen zurückzukehren. Wir müssen wieder aufbauen, was unsere Ahnen zerstört haben. Merowech ist ein starker König. Mit der richtigen Armee könnten wir ein Frankenreich errichten, das sich, so wie einst das Reich der Römer, über die ganze Welt erstreckt. Nur wenn wir es wagen, groß zu denken, können wir auch große Dinge erreichen!
Jeder Bauer aber, der getötet wird, ist eine Niederlage. Jede Ähre, die auf dem Feld verdorrt, eine verlorene Schlacht. Es sind die Bauern und Handwerker, die letzten Endes darüber entscheiden, ob meine Vision von einem Reich, wie es einst bestanden hat, Wirklichkeit werden kann. Deshalb brauche ich Männer wie dich, Golo. Anführer, die stets auch das Wohl der Bauern im Auge haben und dafür Sorge tragen, daß nicht ein Gehöft geplündert wird, wo meine Soldaten ihre Schlachten schlagen. Wenn dies gelingt, dann werden auch wir eines Tages wieder Wasser über hundert Meilen aus den Bergen in die Städte leiten. Wir werden Theater haben, in denen Tausende den Werken unserer Dichter lauschen, und, was das wichtigste ist, kein Bauer in diesem Reich müßte sich fürchten, daß eines Tages die Hunnen oder irgendwelche anderen Plünderer den roten Hahn auf den Giebel seines Gehöfts setzen. Was ich will, ist eine Pax Germanica, die uns allen Frieden und Wohlstand bringt.«
Volker traute seinen Ohren kaum. Jeden anderen, der ihm solche Pläne dargelegt hätte, hätte er für wahnsinnig gehalten. Doch Ricchar machte den Eindruck, als wisse er, wovon er sprach. Er war kein Irrer, der irgendwelchen Phantasien nachhing. Der Frankenfürst galt als Merowechs bester Kriegsherr, und wenn er tausend Reiter haben wollte, dann würde der König sie ihm sicherlich überlassen. Welches Risiko ging Merowech dabei auch ein! Ricchar war noch niemals besiegt worden! Er hatte die Macht, seine kühnen Ideen zu verwirklichen! Ein Reich des Friedens zu errichten... Welch eine Vision! Doch was würde mit den anderen germanischen Königreichen geschehen? Sicherlich wäre Burgund eines der ersten Opfer des fränkischen Eroberungszuges.
»Du sagtest, du willst ein Königreich wie das der Römer errichten«, meldete sich Golo zu Wort. »Und du willst so wie sie Wasser über fast hundert Meilen auf Brücken aus den Bergen hierherbringen, weil dies in deinen Augen eine große Tat war. Ich frage dich, Ricchar, was machte das für einen Sinn? Castra Bonna liegt an einem Fluß, der niemals versiegt. Wozu muß man solchen Aufwand treiben, Wasser hierher zu bringen, wenn es einem vor den Füßen fließt? Was war das für ein Volk, das so viel Kraft in so sinnlose Bauwerke steckte? Und tun wir wirklich gut daran, ihnen nachzueifern?«
Der Frankenfürst lachte. »Es ist gut, einen Mann an seiner Seite zu haben, der den Blick für das Wesentliche behält. Ein Aquädukt zu bauen ist sicherlich nicht unsere wichtigste Aufgabe. Ich denke, die Römer taten es, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren. So wie Cäsar eine breite Brücke über den Rhein bauen ließ, um sie nur ein einziges Mal zu benutzen und dann wieder einreißen zu lassen. Er wollte damit unseren Urahnen zeigen, daß er zu jeder Zeit und an jeder beliebigen Stelle den Strom überqueren konnte. Es war eine Machtdemonstration! So ist es auch mit dem Aquädukt. Doch nun laßt uns weiterreiten. Ich will euch meine Truppen zeigen und wie geschickt meine Reiter im Kampf sind. Sie werden zur Mittagsstunde eine ganz besondere Art von Turnier zu euren Ehren abhalten.«
Unter dem Vorwand, er müsse sich erleichtern, hatte Golo das abendliche Gelage im Palast des Frankenfürsten verlassen. Das Essen, das aufgetragen wurde, war köstlich. Gebratenes Fleisch vom Rind gab es und frisch gebackenes Brot. Dazu wurde Obst gereicht, das aus den Hainen nördlich der Stadt stammte. Doch obwohl Golo für gewöhnlich gutes Essen sehr zu schätzen wußte, mochte ihm an diesem Abend kein Bissen munden. Ricchar machte ihm Angst. Volker schien ganz in den Bann dieses ungewöhnlichen Mannes geschlagen zu sein. Und wenn Golo ehrlich war, mußte selbst er sich eingestehen, daß es ihm nicht leicht gefallen war, das Angebot des Franken abzulehnen. Eine Reitereinheit kommandieren... Damit würde er, der Sohn eines unfreien Bauern, in den Adelsstand aufsteigen. Golo pfiff leise durch die Zähne und streckte sich.
Er war zur Säulenhalle an der Vorderfront des Praetoriums geschlendert und blickte über den weiten Platz, auf dem Ricchar sie gestern empfangen hatte. Die Reiterspiele, denen sie am Mittag beigewohnt hatten, waren sehr eindrucksvoll gewesen. Mehr als hundert Krieger hatten daran teilgenommen. Sie alle trugen Prunkrüstungen mit eisernen Masken. Der Graf hatte sie in zwei gleich große Reiterhaufen eingeteilt, die in Formationen gegeneinander anritten, um ihre Fähigkeiten im Kampf mit Schwert und Lanze zu zeigen. Es war nicht das Waffengeschick der einzelnen Reiter, das den jungen Ritter beeindruckt hatte, sondern die Art und Weise, wie die fränkischen Reiter zusammen kämpften. Sie rückten in geschlossenen Formationen an oder bildeten mit ihren großen Rundschilden dichte Wälle, hinter denen sie vor den Wurfspeeren der anderen Reitergruppe Deckung fanden. Auf Hornsignale und die knappen Befehle ihrer Anführer waren sie binnen weniger Augenblicke in der Lage, die Formation zu ändern und von der Verteidigung zum Angriff überzugehen. Ja, sie schafften es sogar, die Pferde bei der Attacke in einer geschlossenen Front zu halten. So etwas hatte Golo noch niemals bei einem Reiterangriff gesehen. Wenn die burgundischen Ritter attackierten, dann löste sich ihre Formation während des wilden Galopps stets auf. Ob Ricchar tatsächlich Hunderte solcher Reiter aufzubieten vermochte?