J. R. R. Tolkien
Der kleine Hobbit
1
Eine unvorhergesehene Gesellschaft
In einer Höhle in der Erde, da lebte ein Hobbit. Nicht in einem schmutzigen, nassen Loch, in das die Enden von irgendwelchen Würmern herabbaumelten und das nach Schlamm und Moder roch. Auch nicht etwa in einer trockenen Kieshöhle, die so kahl war, daß man sich nicht einmal niedersetzen oder gemütlich frühstücken konnte. Es war eine Hobbithöhle, und das bedeutet Behaglichkeit.
Diese Höhle hatte eine kreisrunde Tür wie ein Bullauge. Sie war grün gestrichen, und in der Mitte saß ein glänzend gelber Messingknopf. Die Tür führte zu einer röhrenförmig langen Halle, zu einer Art Tunnel, einem Tunnel mit getäfelten Wänden. Der Boden war mit Fliesen und Teppichen ausgelegt, es gab Stühle da von feinster Politur und an den Wänden Haken in Massen für Hüte und Mäntel, denn der Hobbit hatte Besucher sehr gern. Der Tunnel wand und wand sich, führte aber nicht tief ins Innere des Berges hinein, den alle Leute viele Meilen weit rund im Lande schlechthin »den Berg« nannten. Zahlreiche kleine, runde Türen öffneten sich zu diesem Tunnel, zunächst auf der einen Seite und dann auch auf der anderen. Treppen zu steigen brauchte der Hobbit nicht: Schlafräume, Badezimmer, Keller, Speisekammern (eine Masse von Speisekammern), Kleiderschränke (ganze Räume standen ausschließlich für die Unterbringung seiner Garderobe zur Verfügung), Küchen, Eßzimmer – alles lag an demselben langen Korridor. Die besten Zimmer lagen übrigens auf der linken Seite (wenn man hereinkommt), denn ausschließlich diese hatten Fenster, tiefgesetzte, runde Fenster, die hinaus auf den Garten blickten und über die Wiesen, die sich gemächlich hinab bis zum Fluß neigten.
Dieser Hobbit war ein sehr wohlhabender Hobbit, und sein Name war Beutlin. Die Beutlins hatten seit undenklichen Zeiten in der Nachbarschaft des »Berges« gelebt, und die Leute hielten sie für außerordentlich achtbar – nicht nur weil die meisten der Beutlins reich, sondern weil sie noch nie in ein Abenteuer verstrickt gewesen waren und nie etwas Unvorhergesehenes getan hatten. Man konnte im voraus sagen, was ein Beutlin auf eine Frage antworten würde, ohne daß man sich die Mühe machen mußte, diese Frage wirklich zu stellen. Dies hier aber ist eine Geschichte von einem Beutlin, der trotzdem Abenteuer erlebte und sich selbst über völlig unvorhergesehene Fragen reden hörte.
Vielleicht verlor er bei seinen Nachbarn an Ansehen, aber er gewann – nun, ihr werdet ja sehen, ob er am Ende überhaupt etwas gewann.
Die Mutter unseres Hobbits – was ist eigentlich ein Hobbit? Ich glaube, daß die Hobbits heutzutage einer Beschreibung bedürfen, da sie selten geworden sind und scheu vor den »Großen Leuten«, wie sie uns zu nennen pflegen. Sie sind (oder waren) ungefähr halb so groß wie wir und kleiner als die bärtigen Zwerge (sie tragen jedoch keine Bärte). Es ist wenig, sozusagen gar nichts von Zauberei an ihnen, ausgenommen die alltägliche Gabe, rasch und lautlos zu verschwinden, wenn großes dummes Volk wie du und ich angetapst kommt und Radau macht wie Elefanten, was sie übrigens eine Meile weit hören können. Sie neigen dazu, ein bißchen fett in der Magengegend zu werden. Sie kleiden sich in leuchtende Farben (hauptsächlich in Grün und Gelb). Schuhe kennen sie überhaupt nicht, denn an ihren Füßen wachsen natürliche, lederartige Sohlen und dickes, warmes, braunes Haar, ganz ähnlich wie das Zeug auf ihrem Kopf (das übrigens kraus ist). Die Hobbits haben lange, geschickte, braune Finger, gutmütige Gesichter, und sie lachen ein tiefes, saftiges Lachen (besonders nach den Mahlzeiten; Mittagessen halten sie zweimal am Tag, wenn sie es bekommen können). Nun, das sei vorerst genug, und wir wollen fortfahren.
Bilbo Beutlin hieß unser Hobbit, und seine Mutter war die berühmte Belladonna Tuk, eine der drei ausgezeichneten Töchter des alten Tuk. Der alte Tuk war das Haupt der Hobbits die jenseits des »Wassers« wohnten, des schmalen Flusses am Fuß des Berges. Es wurde oft gemunkelt, daß vor langer Zeit einmal ein Tuk eine Fee geheiratet hätte. Das war natürlich Unsinn. Aber sicherlich war bei ihnen nicht alles hobbitmäßig. Denn ab und zu ging ein Angehöriger der Tuks fort und stürzte sich in Abenteuer. Sie verschwanden heimlich, und die Familie vertuschte es. Tatsache ist jedenfalls, daß die Tuks nicht ganz so respektabel waren wie die Beutlins, obgleich sie unzweifelhaft reicher waren.
Nicht, daß Belladonna Tuk jemals in irgendwelche Abenteuer verwickelt gewesen wäre, nachdem sie die Frau von Mister Bungo Beutlin geworden war. Bungo, Bilbos Vater, baute (teilweise mit ihrem Geld) für sie die kostspieligste Hobbithöhle, die jemals unterhalb oder oberhalb des Berges oder jenseits des Wassers gebaut worden war. Und dort lebten sie bis an das Ende ihrer Tage. Indessen ist es wahrscheinlich, daß Bilbo, ihr einziger Sohn, obgleich er doch aussah und sich genauso benahm wie eine zweite Ausgabe seines grundsoliden und behäbigen Vaters, irgend etwas Wunderliches in seinen Anlagen von der Tukseite übernommen hatte. Es war etwas, das nur auf die Chance wartete, um ans Licht zu kommen. Die Chance ergab sich erst, als Bilbo Beutlin etwa 5o Jahre alt geworden war, in der wunderschönen Hobbithöhle wohnte, die sein Vater erbaut, und sich augenscheinlich zur Ruhe gesetzt hatte.
Eines Morgens, vor langer Zeit, in der großen Stille, als es noch wenig Geräusche und mehr Grün gab, als die Hobbits noch zahlreich und glücklich waren und Bilbo Beutlin nach dem Frühstück vor seiner Tür eine enorm lange Holzpfeife rauchte, die nahezu bis zu seinen wolligen Zehen reichte (die immer sauber gebürstet waren), da ereignete sich ein merkwürdiger Zufall – Gandalf kam vorbei. Gandalf!
Wenn ihr auch nur ein Viertel von dem gehört hättet, was ich über ihn gehört habe (und ich habe nur sehr wenig gehört von alldem, was es da zu hören gab), so würdet ihr bestimmt höchst verwunderliche Geschichten erwarten. Geschichten und Abenteuer schossen nur so auf an allen Wegen, die er jemals gezogen war. Seit sein Freund, der alte Tuk, gestorben, war er nun schon viele Jahre nicht mehr hier im Land unterhalb des Berges gesehen worden. Wirklich, die Hobbits hatten fast vergessen, wie er aussah. Seine Geschäfte hatten ihn über den Berg und über das Wasser geführt, als sie selbst noch kleine Hobbitjungen und Hobbitmädchen waren.
Alles, was also der keineswegs mißtrauische Bilbo an diesem Morgen sah, war ein kleiner, alter Mann mit einem Stab, hohem, spitzem blauem Hut, einem langen grauen Mantel, mit einer silbernen Schärpe, über die sein langer weißer Bart hing, ein kleiner, alter Mann mit riesigen schwarzen Schuhen.
»Guten Morgen«, sagte Bilbo, und er meinte es ehrlich. Die Sonne schien, und das Gras war grün.
Aber Gandalf schaute ihn scharf unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an.
»Was meint Ihr damit?« fragte er. »Wünscht Ihr mir einen guten Morgen, oder meint Ihr, daß dies ein guter Morgen ist, gleichviel, ob ich es wünsche oder nicht. Meint Ihr, daß Euch der Morgen gut bekommt oder daß dies ein Morgen ist, an dem man gut sein muß?«
»Alles auf einmal«, sagte Bilbo, »und ein sehr feiner Morgen für eine Pfeife Tabak vor der Tür obendrein. Wenn Ihr eine Pfeife bei Euch habt, dann setzt Euch her und bedient Euch! Nichts drängt zur Eile, wir haben noch den ganzen Tag vor uns!« Bilbo setzte sich auf die Bank vor der Tür, kreuzte die Beine und blies einen wundervollen grauen Ring in die Luft, der heil und ohne auseinanderzuwehen über den Berg schwebte.
»Sehr schön«, sagte Gandalf. »Aber ich habe heute morgen keine Zeit, Ringe zu blasen. Ich suche jemanden für ein Abenteuer, das bestanden sein will, und es ist außerordentlich schwierig, jemanden dafür zu finden.«
»Das kann ich mir denken. In dieser Gegend! Wir sind ruhige Leute hier und suchen keine Abenteuer! Ein ärgerlicher, störender, unbehaglicher Zeitvertreib. So etwas verspätet nur die Mahlzeiten. Ich kann nicht verstehen, was jemand daran findet«, sagte unser Mister Beutlin, schob seinen Daumen hinter die Hosenträger und blies einen noch dickeren Ring in die Luft. Dann holte er seine Morgenzeitung heraus und begann zu lesen, gab einfach vor, keine Notiz mehr von dem alten Mann zu nehmen. Der war offensichtlich nicht von seiner Art. Hoffentlich ging er jetzt. Aber er rührte sich nicht. Er stand da, stützte sich auf seinen Stock und betrachtete den Hobbit, ohne ein Wort zu sagen, bis es Bilbo ungemütlich und er sogar ein bißchen ärgerlich wurde.