Der Landstrich zwischen der Furt und den Bergen war also in der Tat viel breiter, als einer vermutet hätte. Bilbo wunderte sich sehr. Der einzige Pfad war mit weißen Steinen gekennzeichnet. Einige waren klein, andere halb bedeckt mit Moos oder Heidekraut. Immerhin war es sehr langweilig, der Spur zu folgen, selbst wenn Gandalf führte, der seinen Weg einigermaßen kannte.
Sie glaubten, kaum ein Stück vorangekommen zu sein, als die Dämmerung anbrach. Sie folgten dem Zauberer, dessen Haupt und Bart sich unruhig bald da –, bald dorthin drehte, denn er suchte den Pfad. Teezeit war lange vorüber, und es schien, als ob auch die Abendessenszeit vorüberginge.
Nachtfalter flatterten umher. Das Licht wurde sehr schwach, denn der Mond war noch nicht aufgegangen. Bilbos Pony stolperte über Wurzeln und Steine. Da gelangten sie so plötzlich an den Rand eines steilen Abfalles, daß Gandalfs Pferd beinahe den Hang hinunterrutschte. »Hier ist es endlich!« rief er. Tief unter ihnen sahen sie ein Tal. Sie hörten das Rauschen rasch fließenden Wassers auf felsigem Grund, sie spürten den Duft von Bäumen, und von der anderen Seite blinkte ein Licht herüber.
Niemals vergaß Bilbo den Weg, den sie in der Dämmerung hinabrutschten und – schlitterten, den steilen Zickzackpfad in das verborgene Tal von Rivendell. Je tiefer sie hinabkamen, desto wärmer wurde die Luft, und der Duft der Kiefern machte Bilbo so schläfrig, daß er gelegentlich einnickte und beinahe vom Pony fiel oder mit der Nase plötzlich auf der Mähne lag. Ihre Lebensgeister erwachten jedoch, als sie tiefer hinabstiegen. Den Kiefern folgten Buchen und Eichen, und sie fühlten sich hier unten im Zwielicht sicher und geborgen. Schon war das letzte Grün in den Wiesen verblaßt, als sie eine offene Lichtung am Ufer des Flusses erreichten.
Hm! Es riecht nach Elben! dachte Bilbo und blickte auf zu den Sternen. Sie leuchteten hell und bläulich.
In diesem Augenblick setzte in den Bäumen ein Singen ein, das wie ein Lachen klang:
So lachten und sangen sie in den Bäumen. Es war ein ganz schöner Unsinn, das kann man wohl behaupten, nicht wahr? Aber sie würden nur noch mehr gelacht haben, wenn man es ihnen gesagt hätte. Es waren eben Elben. Bald konnte Bilbo sie auch erspähen, während die Dämmerung immer tiefer herabfiel. Er mochte Elben gut leiden, obgleich er selten welche traf.
Aber er fürchtete sich auch ein bißchen vor ihnen. Zwerge dagegen verstehen sich nicht recht mit ihnen. Selbst umgängliche Zwerge wie Thorin und seine Freunde halten Elben für ein bißchen verrückt (was, genau bedacht, ebenfalls ein bißchen verrückt ist), oder sie ärgern sich sogar über sie, denn es gibt Elben genug, die sie foppen und sogar auslachen, meistens wegen ihrer Bärte.
»Prächtig«, sagte eine Stimme, »schaut nur her: Bilbo, der Hobbit, auf einem Pony! Das ist köstlich!«
»Höchst erstaunlich und wunderbar!«
Dann begannen sie mit einem neuen Lied, das genauso lächerlich war wie das erste, das ich aufgeschrieben habe. Schließlich kam ein großer, junger Bursche aus den Bäumen herab und verbeugte sich etwas spöttisch vor Gandalf und Thorin.
»Willkommen in unserem Tal!« sagte er.
»Schönen Dank!« antwortete Thorin ein bißchen schroff. Aber Gandalf sprang schon von seinem Pferd, stand zwischen den Elben und sprach lustig mit ihnen.
»Ihr seid ein bißchen vom Weg abgekommen«, sagte der Elb.
»Das heißt, wenn ihr den einzigen Pfad gehen wollt, der über den Fluß und zum Haus hin führt. Wir wollen euch den richtigen Weg weisen – aber am besten, ihr geht zu Fuß, bis ihr über die Brücke gekommen seid. Wollt ihr nicht ein bißchen bleiben und mit uns singen, oder wollt ihr wirklich gleich weiterziehen? Drüben wird das Abendessen vorbereitet«, sagte er. »Ich kann die Holzfeuer bis hierher riechen.«
Müde wie er war, wäre Bilbo gern eine Weile geblieben. Elbengesang, noch dazu im Juni unterm klaren Sternenhimmel, sollte niemand versäumen, der Musik liebt. Auch hätte Bilbo gern ein paar Worte mit diesen Leuten gesprochen, die anscheinend seinen Namen und vieles von ihm wußten, obgleich er sie niemals vorher gesehen hatte. Er dachte, ihre Meinung über sein Abenteuer könnte interessant sein. Elben wissen sehr viel und erfahren alle Neuigkeiten. Sie hören schnell, was bei den Leuten im Land vorgeht – so schnell wie Wasser im Gebirgsfluß dahinschießt, vielleicht sogar noch ein bißchen schneller.
Aber die Zwerge hielten mehr vom Abendessen. Sie wollten keinesfalls bleiben, zogen also weiter und führten ihre Ponys, bis sie auf einen ordentlichen Pfad gebracht worden waren und endlich an das Ufer des Flusses gelangten. Er floß schnell und laut rauschend dahin, wie Gebirgsflüsse an einem Sommerabend, wenn die Sonne weit oben den ganzen Tag auf dem Schnee gestanden hat. Es gab nur eine ganz schmale Steinbrücke ohne Geländer, so schmal, daß gerade ein Pony hinübertrotten konnte. Langsam und vorsichtig betraten sie den Steg, einer nach dem anderen, und jeder führte sein Pony am Halfter. Die Elben hatten schimmernde Laternen ans Ufer gebracht und sangen ein lustiges Lied, als die Gesellschaft hinüberzog.
»Laßt Euren Bart nicht ins Wasser hängen, Vater!« riefen sie Thorin zu, der fast auf allen vieren ging.
»Er ist lang genug und braucht nicht begossen zu werden.«
»Paßt auf, daß Bilbo nicht alle Kuchen aufißt.« riefen sie.
»Er ist jetzt schon zu fett, um durch Schlüssellöcher zu kriechen!«
»Still, still jetzt Freunde und gute Nacht«, sagte Gandalf, der als letzter ging. »Täler haben Ohren, und einige von euch Elben haben eine viel zu lustige Zunge. Gute Nacht!«
Und so kamen sie schließlich zum Haus an der Einödgrenze und fanden seine Türen weit offen.
Nun, es ist merkwürdig, aber von einem Ereignis, das gut abläuft, und von Tagen, die man angenehm verbringt, ist rasch berichtet, und da gibt’s auch nicht viel drüber zu hören. Indessen läßt sich über unbequeme und aufregende, ja sogar schreckliche Ereignisse eine gute Geschichte erzählen, jedenfalls ist eine Menge drüber zu sagen. Die Zwerge blieben eine lange Zeit, vierzehn Tage, in dem guten Haus, und es fiel ihnen schwer, es zu verlassen. Bilbo wäre am liebsten für alle Zeiten hiergeblieben, selbst dann, wenn ein Wunsch ihn ohne Zwischenfälle hätte unmittelbar zurück in seine Hobbithöhle bringen können. Aber – es gibt doch noch etwas über den Aufenthalt zu berichten.
Der Herr des Hauses war ein Elbenfreund – einer von jenen Leuten, deren Vorväter schon in den merkwürdigen Erzählungen vor dem eigentlichen Beginn der Weltgeschichte vorkamen, vor den Kriegen der Elben mit den Orks und vor den ersten Menschen im Norden. In den Tagen unserer Erzählung gab es noch immer Leute, die sowohl Elben als auch Helden aus den Ländern des Nordens als Ahnen hatten. Und Elrond, der Herr des Hauses, war ihr Oberhaupt.
Er besaß ein so edles und schönes Gesicht wie ein Elbenfürst, war so stark wie ein Krieger, so weise wie ein Zauberer, so ehrwürdig wie ein Zwergenkönig und so freundlich wie der Sommer. Er kommt in vielen Geschichten vor, aber sein Anteil an der Erzählung von Bilbos ›großem Abenteuer ist nur gering, obgleich wichtig, wie ihr sehen werdet, wenn wir jemals bis zu Ende kommen. Sein Haus war schlechthin vollkommen ob ihr an das Essen denkt oder an den Schlaf, an die Arbeit oder an das Geschichtenerzählen, an das Singen oder auch nur an das einfache Dasitzen und Nachdenken, oder ob ihr an eine angenehme Mischung von allem dem denkt. Unfriede kann nicht in dieses Tal.