»Guten Morgen!« sagte Bilbo schließlich. »Wir wollen hier keine Abenteuer, vielen Dank! Ihr könnt es hinter dem Berg oder jenseits des Wassers versuchen!« Damit meinte er, die Unterhaltung wäre beendet.
»Was Ihr nicht alles unter ›guten Morgen‹ versteht«, sagte Gandalf »Jetzt meint Ihr, daß Ihr mich damit loswerden könntet, daß es gut wäre, wenn ich verschwände.«
»Keineswegs, keineswegs, mein bester Herr – wie heißt Ihr eigentlich?«
»Ja freilich, mein bester Herr! Ich weiß sehr gut, wie Ihr heißt, Mister Bilbo Beutlin. Und Ihr kennt auch meinen Namen, obgleich Ihr nicht ahnt, daß ausgerechnet ich dazu gehöre: Ich bin Gandalf, und Gandalf, denkt nur, das bin ich! Reizend, daß Belladonnas Sohn mich mit einem ›Guten Morgen‹ wegscheuchen will, als ob ich Knöpfe an der Tür verkaufte!«
»Gandalf, Gandalf. Du lieber Himmel, doch nicht der wandernde Zauberer, der dem alten Tuk ein Paar magischer Diamantklammern verehrte, die sich von selbst schlossen und sich niemals ohne Befehl lösten? Keiner verstand es wie er, beim Kaffeetrinken solch wunderbare Geschichten über Drachen zu erzählen, über Kobolde und Riesen, über gerettete Prinzessinnen und über das unvorhergesehene Glück von Söhnen armer Witwen. Doch nicht Gandalf, der so ausgezeichnete Feuerwerke abzubrennen verstand! Ja, daran erinnere ich mich! Der alte Tuk arrangierte sie zur Sommersonnenwende. Großartig, toll! Sie schossen auf wie mächtige Lilien, wie Löwenmaul und Goldregen aus Feuer. Den ganzen Abend noch hingen sie in der Dämmerung.« Ihr werdet schon gemerkt haben, daß Mister Beutlin nicht ganz so prosaisch war, wie er es von sich selbst annahm.
Überdies war er in Blumen geradezu vernarrt. »Meine Güte«, fuhr er fort, »doch nicht der Gandalf, der es auf dem Gewissen hat, daß so viele brave Burschen und Mädchen einfach ins Blaue gingen, verrückte Abenteuer zu erleben. Beim Bäumeklettern angefangen bis zur Reise auf Schiffen, die hinüber zur anderen Seite segelten? Der Himmel sei mir gnädig, so ein Leben schien aber – ich meine, Ihr habt in dieser Gegend allerhand angerichtet. Ich bitte um Verzeihung, aber ich hatte keine Ahnung, daß Ihr noch immer solchen Unfug macht.«
»Was soll ich denn sonst machen?« sagte der Zauberer.
»Und ich bin froh, daß Ihr Euch noch an einiges erinnert. Ihr scheint beispielsweise meine Feuerwerke in gutem Andenken behalten zu haben, und das ist gewiß nicht ohne Hoffnung. In der Tat, um Eures seligen Großvaters Tuk und der armen Belladonna willen gebe ich Euch gern, um was Ihr mich gebeten habt.«
»Verzeihung, habe ich denn um.etwas gebeten?«
»Natürlich habt Ihr! Zweimal sogar: Um meine Verzeihung habt Ihr gebeten. Die gebe ich Euch. Und außerdem gehe ich sogar noch weiter und schicke Euch in dies besagte Abenteuer. Das ist sehr erheiternd für mich und ausgezeichnet für Euch und nützlich ist es außerdem – das heißt, wenn Ihr es wohlbehalten übersteht.«
»Tut mir leid. Ich wünsche keine Abenteuer. Vielen Dank, und heute schon gar nicht. Guten Morgen, mein Herr! Aber bitte, kommt zum Tee, jederzeit, wie es Euch paßt – warum nicht morgen? Auf Wiedersehen!« Damit drehte sich der Hobbit um, verschwand hinter der runden grünen Tür und schloß sie, so schnell er es, ohne unhöflich zu erscheinen, wagen konnte, denn Zauberer sind schließlich Zauberer.
Warum in aller Welt bat ich ihn bloß zum Tee! sagte er vor sich hin, als er in die Speisekammer ging.
Zwar hatte er gerade gefrühstückt, aber er dachte, daß ein Kuchen oder zwei und ein Schluck dazu ihm guttäten nach diesem Schrecken.
Gandalf stand inzwischen noch immer vor der Tür und lachte lange und leise. Nach einer Weile trat er näher, und mit der Stockspitze kratzte er ein wunderliches Zeichen auf die schöne grüne Haustür.
Dann zog er davon, gerade als der Hobbit seinen zweiten Kuchen beendet hatte und erleichtert aufatmete, weil er glaubte, daß er nun glücklich alle Abenteuer vermieden hätte.
Am nächsten Tag hatte er Gandalf fast vergessen. Ein gutes Gedächtnis war nicht seine Stärke, es sei denn, er benutzte sein Notizbuch. Dann hätte er vielleicht eingetragen: Gandalf, Tee, Mittwoch. Aber gestern war er dazu viel zu verwirrt gewesen.
Kurz vor der Teezeit hörte Bilbo ein furchtbares Gebimmel an der Haustür. Da erinnerte er sich! Er rannte zur Küche, setzte den Teekessel auf, holte eine zweite Tasse und Untertasse und einen oder zwei Extrakuchen und lief zur Tür.
»Ich bin ganz untröstlich, daß ich Euch warten ließ«, wollte er sagen, als er sah, daß keineswegs Gandalf vor ihm stand. Es war ein Zwerg mit einem blauen Bart, den er hinter den Goldgürtel gesteckt hatte, mit leuchtenden Augen unter seiner dunkelgrünen Kapuze. Kaum war die Tür geöffnet, so drängelte er sich auch schon hinein, gerade als ob er erwartet worden wäre. Er hing seinen Kapuzenmantel an den nächsten Haken, verbeugte sich und sagte: »Dwalin, zu Euren Diensten!«
»Bilbo Beutlin, zu Euren Diensten«, antwortete der Hobbit, zu überrascht, um im Augenblick irgendwelche Fragen zu stellen. Als die darauffolgende Pause unangenehm wurde, fügte er hinzu: »Ich wollte gerade meinen Tee nehmen, bitte, trinkt eine Tasse mit.« Das war vielleicht ein bißchen steif, aber er meinte es ehrlich. Und was würdet ihr tun, wenn ein uneingeladener Zwerg plötzlich hereingeschneit käme und seine Sachen an eure Garderobe hinge, ohne ein Wort der Erklärung.
Sie saßen nicht lange am Tisch, genauer gesagt, sie hatten es kaum bis zum dritten Kuchen gebracht, als ein neues, noch lauteres Gebimmel Bilbo aufschreckte.
»Entschuldigt mich!« sagte er und ging zur Tür.
»Habt Ihr schließlich doch noch hierhergefunden«, wollte er diesmal Gandalf fragen. Aber es war nicht Gandalf. Statt Gandalf stand ein sehr ehrwürdig aussehender Zwerg auf der Schwelle, der einen weißen Bart und eine purpurrote Kapuze trug. Auch er trappte herein, kaum daß die Tür geöffnet war, gerade als ob er eingeladen sei.
»Wie ich sehe, kommen sie schon an«, sagte er, als er Dwalins grüne Kapuze am Haken sah. Er hängte seine purpurrote daneben, und: »Balin, zu Euren Diensten!« setzte er hinzu, die Hand auf der Brust.
»Schönen Dank!« erwiderte Bilbo, der nach Luft schnappte.
Das war zwar nicht korrekt, aber »sie kommen schon – das hatte ihn ernstlich verwirrt. Er hatte gern Besuch, aber lieber war es ihm, wenn er den Besuch kannte, bevor er ankam. Auch zog er es vor, Besucher selbst einzuladen. Es kam ihm der schreckliche Gedanke, daß die Kuchen ausgehen könnten, und dann – als Gastgeber kannte er seine Pflichten und erfüllte sie sogar in schmerzlichen Fällen –, und dann mußte er selbst ohne Kuchen bleiben.
»Kommt herein und trinkt einen Tee mit«, brachte er dennoch heraus, nachdem er allerdings tief Atem geholt hatte.
»Ein kleines Bier wäre mir lieber, wenn es Euch nichts ausmacht, mein guter Herr«, sagte Balin mit dem weißen Bart.
»Für Kuchen wäre ich dankbar – Kümmelkuchen, ja, das wäre das Richtige, wenn es solchen bei Euch gibt!«
»Massenweise!« hörte sich Bilbo zu seiner eigenen überraschung antworten. Er verschwand im Keller, um einen Krug mit Bier zu füllen, und dann in der Speisekammer, wo er zwei wundervolle runde Kümmelkuchen holte, die er erst diesen Nachmittag gebacken hatte als leckere Happen zum Abendbrot.
Als er zurückkehrte, unterhielten sich Dwalin und Balin am Tisch wie alte Freunde (tatsächlich waren sie Brüder). Bilbo setzte das Bier und die Kuchen nicht gerade sacht vor sie hin, da läutete die Glocke schon wieder Sturm, einmal und noch einmal.
Ja, diesmal ist es sicher Gandalf, dachte er, als er den Gang entlangschnaufte. Aber es war nicht Gandalf. Es waren zwei weitere Zwerge, beide mit blauen Kapuzen, silbernen Gürteln und gelben Bärten, und jeder trug einen Sack mit Werkzeugen und einen Spaten. Sie sprangen herein, kaum daß die Tür einen Spalt geöffnet war. Nun, Bilbo war kaum noch überrascht.