Der arme Bilbo saß im Dunkeln und dachte an all die schrecklichen Riesen und Ungeheuer, von denen er jemals in alten Sagen gehört hatte – aber nicht einer von ihnen hatte all diese furchtbaren Taten vollbracht. Er hatte das Gefühl, daß die Antwort ganz anders lauten und daß er sie eigentlich wissen müßte, aber er konnte nicht daraufkommen. Bilbo begann sich zu fürchten, und das ist schlecht fürs Nachdenken. Schon kroch Gollum wieder aus seinem Boot, platschte ins Wasser und schob sich aufs Ufer. Bilbo konnte die Augen auf sich zukommen sehen. Seine Zunge schien ihm am Gaumen zu kleben. Er wollte schreien: »Gebt mir mehr Zeit! Gebt mir mehr Zeit!« Aber alles, was mit einem plötzlichen Quieken dabei herauskam, war: »Zeit. Zeit!«
Durch einen Glücksfall war Bilbo gerettet. Denn »Zeit« war des Rätsels Lösung.
Gollum war wieder einmal enttäuscht, und jetzt wurde er böse, und das Spiel wurde ihm langweilig.
Es hatte ihn richtig hungrig gemacht, und diesmal ging er nicht zurück in das Boot. Er setzte sich im Dunkeln neben Bilbo nieder. Das war für den Hobbit schrecklich ungemütlich und brachte ihn schier um den Verstand.
»Es muß noch eine Frage sein, mein Schatz, gewiß, gewißß, gewißß. Noch eine Frage, gewiß, gewißß«, sagte Gollum.
Aber Bilbo gelang es nicht, eine Frage auszudenken, denn das schmutzige, nasse, kalte Wesen hockte neben ihm, betatschelte und beknuffte ihn. Er kratzte sich, er kniff sich, und noch immer fiel ihm nichts ein.
»Wass soll’s ssein, wass soll’s ssein?« sagte Gollum.
Bilbo kniff sich und schlug sich vor den Kopf. Er langte nach seinem kleinen Schwert. Dann griff er sogar mit der anderen Hand in die Tasche. Und dort fand er den Ring, den er im Gang aufgehoben und ganz vergessen hatte.
»Was habe ich da in meiner Tasche?« fragte er laut. Er sprach eigentlich zu sich selbst, aber Gollum dachte, es sei ein Rätsel, und war schrecklich aufgeregt.
»Das ist nicht fair!« zischte er. »Das ist nicht fair, nicht wahr, mein Schatz? Zu fragen, was das da in seiner garsstigen kleinen Taschsche hat?«
Als Bilbo merkte, daß Gollum diese Frage für ein Rätsel hielt, und weil er im Augenblick nichts Besseres wußte, blieb er dabei. »Was habe ich da in meiner Tasche?« sagte er noch lauter.
»Sssss«, zischte Gollum. »Es muß uns dreimal raten lassen, mein Schatz, dreimal!«
»Gut, schießt los«, erwiderte Bilbo.
»Seine Hände!« sagte Gollum.
»Falsch«, rief Bilbo, der glücklicherweise gerade seine Hand herausgezogen hatte. »Ratet weiter!«
»Sssss«, sagte Gollum und war aufgeregter denn je. Er dachte an alles, was er in seinen eigenen Taschen hatte: Fischgräten, Orkzähne, nasse Muscheln, ein Stückchen Fledermausflügel, einen scharfen Stein, mir dem er seine Krallen wetzte, und anderes ekliges Zeug. Er überlegte angestrengt, was andere Leute wohl in ihren Taschen haben könnten.
»Ein Messer!« sagte er schließlich.
»Falsch«, antwortete Bilbo, der sein Messer vor einiger Zeit verloren hatte. »Letztes Mal!«
Jetzt war Gollum viel aufgeregter als bei der Eierfrage. Er zischte und gurgelte und schaukelte vorwärts und rückwärts, patschte mit den Füßen auf den Boden, wand und krümmte sich. Aber er wagte nicht, die letzte Chance aufs Spiel zu setzen.
»Los«, sagte Bilbo. »Ich warte!« Es sollte kühn und munter klingen, aber er war gar nicht sicher, wie dieses Spiel enden würde, ob Gollum richtig riet oder nicht.
»Die Zeit ist vorbei!« sagte Bilbo.
»Schnur – oder gar nichts«, schrie Gollum, der nun nicht fair blieb, denn er versuchte es mit zwei Lösungen zugleich.
»Beides falsch!« rief Bilbo sehr erleichtert. Und er sprang sogleich auf die Füße, lehnte den Rücken an die nächste Wand und zog sein kleines Schwert heraus. Er wußte natürlich, daß das Rätselspiel heilig und auch sehr alt war und daß selbst verschlagene Wesen sich hüteten, beim Spiel zu betrügen. Aber er spürte, daß er diesem schleimigen Kerl nicht trauen konnte, denn würde er auch im Notfall sein Versprechen halten? Bestimmt wäre ihm jede Entschuldigung recht, wenn er sich drum herumdrücken könnte. Und schließlich war die letzte Frage kein echtes Rätsel im Sinne der alten Regeln.
Aber wie dem auch sei, Gollum griff ihn nicht sofort an. Er konnte das Schwert in Bilbos Hand sehen.
Er saß still, zitterte und flüsterte. Endlich konnte Bilbo nicht länger warten.
»Nun«, sagte er. »Wie ist das mit Eurem Versprechen? Ich möchte jetzt gehen. Ihr müßt mir den Weg zeigen.«
»Haben wir das gesagt, mein Schatz? Diesem häßlichen kleinen Beutlin den Weg hinaus zeigen, gewiß, gewiß. Aber was hat er in seinen Taschen, he? Keine Schnur, Schatz, aber nichts auch nicht. O nein, gollum!«
»Das braucht Euch jetzt nicht mehr zu kümmern«, sagte Bilbo. »Ein Versprechen ist ein Versprechen.«
»Verdrießlich ist der Kleine, Schatz, ist ungeduldig«, zischte Gollum. »Aber er muß warten, ja, das muß er. Wir können nicht so schnell die Gänge hinauf Wir müssen uns erst etwas holen, ja, erst etwas, das uns helfen kann.«
»Gut, aber schnell!« sagte Bilbo, erleichtert bei dem Gedanken, daß Gollum fortgehen wollte. Er nahm an, daß er nur eine Entschuldigung vorbrachte und gar nicht zurückkehren würde. Wovon hatte Gollum doch gesprochen? Was konnte er dort draußen auf dem dunklen See so Nützliches haben?
Aber er irrte sich. Gollum beabsichtigte durchaus, zurückzukehren. Er war jetzt wütend und hungrig.
Und er war ein elendes, verschlagenes Wesen, und seinen Plan hatte er längst.
Nicht weit weg lag seine Insel, von der Bilbo nichts wußte. Dort hatte er wertlosen Kram versteckt, darunter aber etwas ganz Wunderbares, eine Kostbarkeit: Es war ein Ring, ein goldener Ring, ein kostbarer Ring.
»Mein Geburtstagsgeschenk!« wisperte er sich selbst zu, wie so oft schon in den endlosen finsteren Tagen. »Das brauchen wir jetzt, ja, das brauchen wir jetzt.«
Er wollte den Ring holen, denn der Ring war ein Kleinod von besonderer Macht. Wer ihn auf den Finger steckte, wurde unsichtbar. Nur im vollen Sonnenlicht konnte er gesehen werden, und dann auch nur durch den Schatten, der obendrein unsicher und schwach war.
»Mein Geburtstagsgeschenk Ach, was für ein schöner Geburtstag, mein Schatz.« So hatte er es sich selbst immer wieder erzählt. Wer weiß, wie Gollum zu diesem Geschenk gekommen war, damals, vor vielen, vielen Jahren, als solche Ringe noch häufiger waren in der Welt? Vielleicht hätte selbst der Meister, der über diese Ringe verfügte, es nicht sagen können. Anfangs trug Gollum den Ring – bis es ihn ermüdete. Und dann bewahrte er ihn an seinem Körper in einer Tasche auf – bis diese ihn wund rieb. Und jetzt verbarg er ihn gewöhnlich in einem Loch auf seiner Felseninsel, und immerzu kam er und schaute ihn an. Doch manchmal, wenn er es nicht länger ertragen mochte, von ihm getrennt zu sein, oder wenn er sehr hungrig war und Fisch ihn anekelte, setzte er den Ring auf. Dann kroch er die dunklen Gänge entlang und spähte nach Orks aus, die sich verlaufen hatten. Mit dem Ring wagte er sich sogar dorthin, wo Fackeln brannten, obwohl von ihrem Schein seine Augen blinzelten und schmerzten, denn er fühlte sich sicher. O gewiß, ganz sicher. Keiner würde ihn sehen, keiner würde ihn bemerken, bevor er nicht seine Finger an der Kehle spürte. Nur wenige Stunden zuvor hatte er ihn noch getragen und einen kleinen Orksprößling gefangen. Wie er gequiekt hatte! Gollum hatte noch ein paar Knochen zum Knabbern zurückgelegt. Aber jetzt wollte Gollum etwas Zarteres.