Bilbo hatte mehr als genug zu tun, nicht in Stücke zerrieben und zermalmt zu werden. Aber schließlich geriet die rumpelnde Gesellschaft in Bewegung, und ein Faß nach dem andern glitt unter dem Felsbogen ins Freie und trieb davon. Da erkannte er, daß es übel um ihn bestellt gewesen wäre, hätte er jetzt rittlings auf einem Faß gesessen, denn selbst für einen Hobbit blieb kein Platz mehr unter dem plötzlich sehr niedrigen Felsdach des Stromtores.
So trieben sie hinaus und unter den herabhängenden Ästen der Bäume dahin, die beide Ufer säumten. Bilbo fragte sich, wie es seinen Freunden wohl gehen mochte und ob sie in ihren Fässern schon im eingedrungenen Wasser saßen? Einige Fässer trieben sehr tiefliegend an ihm vorbei, und er vermutete, daß Zwerge drinnen waren.
Hoffentlich habe ich die Deckel dicht genug eingesetzt, dachte er. Aber es dauerte nicht lange, da hatte er mit sich selbst genug zu tun und ließ die Zwerge Zwerge sein. Er konnte gerade seinen Kopf über Wasser halten, die Kälte schüttelte ihn, und er fürchtete schon, elendig sterben zu müssen, ehe das Glück sich wandte. Wie lange konnte er sich festhalten? Und Bilbo überlegte, ob er es wagen sollte, loszulassen und zum Ufer zu schwimmen.
Aber das Glück wandte sich ihm bald wieder zu. Die Strudel zogen einige Fässer dicht ans Ufer, und dort hingen sie für eine Weile an einer im Wasser verborgenen Wurzel fest. Bilbo nahm die Gelegenheit wahr, und während sein Faß hübsch festgekeilt war, kletterte er hinauf Er krabbelte wie eine halb ertrunkene Ratte aufs Faß, und oben legte er sich bäuchlings hin, um das Gleichgewicht besser zu halten. Der Wind wehte zwar kalt, aber das war immer noch besser, als Wasser zu schlucken. Bilbo hoffte nur, er würde nicht plötzlich herunterrollen, wenn die Reise wieder weiterging.
Nach kurzer Zeit machten die Fässer sich frei, drehten und wirbelten mit der Uferströmung davon und trieben in die Mitte hinaus. Da fand Bilbo heraus, daß es tatsächlich so schwierig war, sich oben zu halten, wie er befürchtet hatte. Immerhin – er schaffte es, obgleich es eine elende Plackerei war.
Glücklicherweise war Bilbo ziemlich leicht, und das Faß war eins von der dicken, bauchigen Sorte. Und da es außerdem leck war, hatte es Wasser gezogen. Jedenfalls war ihm zumute, als ob er versuchen wollte, ohne Zaum und Steigbügel auf einem breitrückigen Pony zu reiten, das dauernd bestrebt war, sich im Gras zu wälzen.
So trieb Mister Beutlin schließlich zu der Stelle, wo der Wald an beiden Seiten lichter wurde. Er konnte den blassen Himmel zwischen den Bäumen sehen. Plötzlich wurde der dunkle Fluß mächtig und breit, denn er vereinigte sich mit dem Nachtwaldfluß, der rauschend herunter von den Haupttoren des königlichen Palastes kam. Auf dem Spiegel eines matten Wasserstreifs, der nicht mehr länger überschattet war, tanzte der Widerschein von Wolken und Sternen. Die rauschenden Strudel des Nachtwaldflusses trieben die ganze Faßgesellschaft zum Nordufer, in das die Strömung im Laufe der Zeiten eine weite Bucht gefressen hatte. Diese Bucht hatte ein grobkiesiges Ufer mit überhängenden Rändern; ein herausspringendes Kap aus hartem Fels versperrte das östliche Ende. Im seichten Ufersaum rollten die meisten Fässer auf Grund, während einige weiter ostwärts gegen den steinernen Damm rumpelten.
Auf den Ufern aber hielten mehrere Elben Ausguck. Sie stakten und flößten die Fässer im seichten Wasser zusammen, und nachdem alle ordentlich gezählt waren, wurden sie zusammengebunden, vertäut und bis zum Morgen liegengelassen. Arme Zwerge! Bilbo indessen war jetzt nicht so schlecht daran. Er glitt von seinem Faß, watete zum Ufer und schlich sich zu einigen Hütten, die er nicht weit hinter dem Gestade des Flusses entdeckt hatte. Er würde es sich nicht zweimal überlegen, wenn er uneingeladen ein Nachtessen mitnehmen konnte (falls er dazu Gelegenheit fand). Lange genug war er gezwungen gewesen, sich auf diese Weise durchzuschlagen, und mittlerweile hatte er nur zu gut erfahren, was es heißt, wirklichen Hunger zu haben und nicht nur wählerisch vor den Leckerbissen einer wohlgefüllten Speisekammer zu stehen. Bilbo hatte den Schein eines Feuers zwischen den Bäumen gesehen, und das gefiel ihm in seinen tropfenden, zerfetzten Kleidern, die ihm kalt und klamm am Leibe hingen.
Es ist nicht erforderlich, euch viel von den Aufregungen dieser Nacht zu erzählen, denn wir sind nicht mehr allzu weit vom östlichen Endpunkt unserer Reise entfernt, und damit stehen wir vor dem letzten und größten aller Abenteuer.
Machen wir es also kurz. Mit Hilfe des Zauberringes ging zuerst natürlich alles gut, aber Bilbo verriet sich schließlich durch seine nassen Fußspuren und die Tropfen, die er überall, wo er ging und stand, hinterließ. Auch fing ihm die Nase an zu laufen, und wo immer er sich versteckte, wurde er doch entdeckt, weil die schrecklichen Explosionen seines mühsam unterdrückten Genieses ihn verrieten.
Sehr bald war im Dorf am Fluß die Hölle los, aber Bilbo entkam in die Wälder und schleppte einen Laib Brot, eine Lederflasche Wein und eine Pastete mit – nichts davon gehörte ihm. Den Rest der Nacht mußte er naß, wie er war, und weit weg von einem Feuer verbringen. Aber er hatte eine Flasche, die ihm half, auch darüber hinwegzukommen, und er duselte sogar ein bißchen auf einem Haufen trockener Blätter ein, obgleich es doch schon spät war im Jahr und die Nacht ungemütlich kühl.
Mit einem besonders lauten Nieser wachte Bilbo wieder auf. Es war schon grauer Morgen, und vom Fluß scholl fröhlicher Lärm herauf. Die Elben bauten ein Floß aus den Fässern, und bald würden sie damit hinunter zur Seestadt fahren. Bilbo nieste noch einmal. Das Wasser tropfte nicht mehr von ihm herab, aber ihm war mächtig kalt. So rasch seine steifen Beine ihn trugen, rannte er zum Fluß hinunter und schaffte es gerade noch, in dem großen Durcheinander unbemerkt aufs Deck des Fässerfloßes zu springen. Glücklicherweise schien die Sonne noch nicht. Er warf also keinen peinlichen Schatten. Und er war sehr dankbar, daß er eine ganze Weile nicht zu niesen brauchte.
Es wurde mächtig mit Stangen im Fluß herumgewühlt. Die Elben, die im seichten Wasser standen, hievten an und schoben fort. Die Fässer, die man zusammengezurrt hatte, krachten und knirschten.
»Das ist eine verteufelt schwere Ladung!« knurrten einige.
»Die Fässer schwimmen viel zu tief – manche sind bestimmt nicht leer. Wären sie am Tage angetrieben, so hätten wir mal hineingeschaut«, sagten sie.
»Keine Zeit jetzt!« rief der Flößer. »Stoßt ab!«
Und so trieben sie schließlich davon, langsam zuerst, bis sie das Felsenkap passiert hatten, auf dem andere Elben standen, die sie mit langen Stangen abstießen. Als sie den Hauptstrom erreichten, eilten sie schneller und schneller dem See zu.
Sie waren den Verliesen des Königs entronnen und hatten den Nachtwald durchquert. Aber ob sie noch lebendig oder schon tot waren, das bleibt abzuwarten.
10
Ein warmes Willkommen
Während sie dahintrieben, wurde das Licht des Tages heller und wärmer. Der Fluß umströmte einen steilen Uferabfall, der von links hereinragte. Dicht an seinem steinigen Fuß schossen klatschend und gurgelnd die dunklen, tiefen Wassermassen vorbei. Plötzlich trat die Klippe zurück. Das Ufer wurde flach. Die Baumzeilen endeten, und Bilbo bot sich folgender Anblick: Weit öffnete sich die Landschaft vor ihm. überall glänzten Wasserflächen, Einbrüche des Flusses in hundert Windungen, Sümpfe und Teiche mit unzähligen Inselchen. Aber mitten hindurch führte das starke, stetige Stromband, und in der Ferne zeichnete sich, das dunkle Haupt in Wolkenfetzen gehüllt, der Berg ab. Die Nachbarhäupter im Nordosten und das dazwischenliegende tiefere Land konnte man nicht erkennen. Nur dieser eine Berg erhob sich dort und blickte über die Moore hinweg zum Nachtwald herüber. Der Einsame Berg! Bilbo hatte einen langen, abenteuerlichen Weg hinter sich, um ihn zu sehen. Aber er gefiel ihm ganz und gar nicht.