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Wie Bilbo nun dem Gespräch der Flößer lauschte und die Bruchstücke des Gehörten zusammensetzte, wurde ihm bald klar, daß er mehr als Glück hatte, wenn er den Berg überhaupt aus dieser Entfernung sehen konnte. So elend seine Gefangenschaft auch gewesen und so ungemütlich seine augenblickliche Lage war (gar nicht erst zu reden von den Zwergen unter dem Floßdeck), so hatte er doch mehr Glück gehabt, als er je geahnt. Die Flößer redeten vom Handel auf den Wasserwegen und vom Anwachsen des Verkehrs auf dem Strom, da die Landwege, die vom Osten nach dem Nachtwald führten, verfallen waren oder nicht mehr benutzt wurden. Und weiter war die Rede von den Menschen vom See und den Waldelben, die sich darüber stritten, wer den Nachtwaldfluß offenhalten und wer die Ufer pflegen und warten sollte. Diese Gegend hatte sich seit den Tagen, als die Zwerge noch in dem Berg wohnten, außerordentlich verändert. Für die meisten Leute war diese Zeit nur dunkle Vergangenheit.

Ja selbst in den letzten Jahren und sogar seit den jüngsten Berichten, die Gandalf erhalten hatte, war manches anders geworden. Große überschwemmungen und Wolkenbrüche hatten alle Flüsse, die ostwärts zogen, anschwellen lassen. Auch hatten sich Erdbeben ereignet, für die einige der Flößer den Drachen Smaug verantwortlich machten (mit einem Fluch oder vielsagendem Kopfnicken zum Berg hin spielten sie auf seine Gegenwart an). Die Sümpfe und Moore hatten sich zu beiden Seiten immer weiter ausgebreitet. Pfade waren verschwunden und mancher Reiter und Wanderer dazu, der versucht hatte, die verlorenen Wege wiederzufinden. Sogar der Elbenweg durch den Nachtwald, dem sie auf Beorns Rat hin gefolgt waren, führte jetzt zu einer zweifelhaften, wenig benutzten Stelle am östlichen Waldessaum. Einzig und allein der Fluß bot noch eine sichere Möglichkeit, von den Rändern des Nachtwaldes zu den vom Berg überragten Ebenen jenseits zu gelangen. Und dieser Fluß wurde vom König der Waldelben überwacht.

So war also Bilbo, wie man sieht, am Ende an den einzigen Weg geraten, der überhaupt etwas taugte.

Es hätte Mister Beutlin, der zähneklappernd auf den Fässern hockte, sicher ein wenig getröstet, wenn er gewußt hätte, daß die Nachricht von dieser Reise mittlerweile weit in die Ferne bis zu Gandalf gelangt war und dem Zauberer Sorge und Angst eingeflößt hatte. Seine Geschäfte (die in diese Geschichte nicht hineinspielen) hatte Gandalf abgeschlossen,. und er war drauf und dran, Thorin und seiner Gesellschaft zu Hilfe zu eilen. Aber Bilbo wußte es nicht.

Alles, was er wußte, war, daß der Fluß weiter- und weiterströmte, daß er hungrig war, einen scheußlichen Schnupfen hatte und daß er den finsteren Blick nicht leiden mochte, mit dem der Berg, je näher er heranrückte, ihn anstarrte und ihm zu drohen schien. Wie dem auch sei, der Strom nahm nach einer Weile einen mehr südlichen Lauf, der Berg trat zurück, spät am Nachmittag wurden die Ufer felsig, und der Fluß sammelte wieder alle seine Wasser in ein tiefes Bett, und eine rasch dahinbrausende Strömung verlieh dem Floß gute Fahrt.

Die Sonne war schon untergegangen, als der Nachtwaldfluß mit einer zweiten Kehre nach Osten in den Langen See einmündete. Steinige Klippentore mit breiten, groben Kiesbänken bewachten an jeder Seite die Mündung. Der Lange See! Bilbo hatte sich niemals bisher eine solch riesige Wasserfläche vorstellen können, es sei denn, das Meer selbst. Der See war so groß, daß die Ufer drüben schmal und blaß aussahen, und er war so lang, daß das nördliche Ende, das auf den Berg hin zeigte, überhaupt nicht zu sehen war. Einzig von der Karte her wußte Bilbo, daß dort oben, wo jetzt schon die Sterne des Großen Bären funkelten, das Eilige Wasser von Dal herunterkam und zusammen mit dem Nachtwaldfluß diesen Raum, der einmal ein gewaltiges Felsental gewesen sein mußte, mit tiefen Wassern füllte. Am Südausgang ergoß sich der verdoppelte Strom über hohe Fälle und eilte unbekannten Ländern entgegen. In der stillen Abendluft stand der Lärm der herabschießenden Wasser wie ein fernes Dröhnen.

Nicht weit von der Mündung des Nachtwaldflusses aber lag die seltsame Stadt, von der er in den Kellern des Elbenkönigs hatte erzählen hören. Die Stadt war nicht am Ufer erbaut worden, obgleich dort ein paar Hütten und andere Gebäude lagen, sondern weit draußen auf dem See, wo sie vor den Wirbeln des hereinströmenden Flusses durch ein felsiges Vorgebirge geschützt war, das eine ruhige Bucht umschloß. Eine mächtige Holzbrücke schwang sich auf kräftigen Pfählen, die aus Baumstämmen gemacht waren, hinüber zu der geschäftigen hölzernen Stadt. Es war keine Elbenstadt, sondern eine, bewohnt von Menschen, die es wagten, unter dem Schatten des fernen Drachenberges zu leben. Ihr Handel, der von Süden her den großen Fluß heraufkam, blühte noch immer. Die Güter wurden unterhalb der Fälle auf Karren umgeladen und kamen dann auf kurzem Landweg zur Stadt. Aber in den großen Tagen der Vergangenheit, als Dal im Norden noch reich und glücklich lebte, war auch die Seestadt wohlhabend und mächtig gewesen. Ganze Schiffsflotten hatten die Gewässer bevölkert, Schiffe voll Gold und Schiffe mit Bewaffneten, es hatte Kriege gegeben und Taten, die heute nur noch Legende waren. Die verfaulten Pfähle einer anderen größeren Stadt konnten jetzt noch an der Küste gesehen werden, wenn das Wasser während der Trockenheit sank.

Aber die Menschen erinnerten sich kaum daran, obgleich der eine oder andere noch immer die Lieder von den Zwergenkönigen des Gebirges sang, von Thror und Thrain aus dem Geschlecht der Durin, vom Einbrechen des Drachen und dem Fall der Fürsten von Dal. Einige sangen auch davon, daß Thror und Thrain zurückkehren und schieres Gold durch das Bergtor am Nordende des Sees fließen würde, ja, daß das ganze Land aufs neue von Lachen und Singen erklingen sollte.

Aber diese erbaulichen Geschichten änderten nicht viel an ihrer täglichen Geschäftigkeit.

Kaum war das Fässerfloß in Sicht gekommen, da ruderten auch schon Boote aus dem Pfahlgewirr der Stadt heraus. Laute Rufe begrüßten die Flößer, Taue wurden geworfen, Ruder schlugen im Takt, und bald war das Floß aus dem Strom des Nachtwaldflusses herausgeholt und um die hohe Felsenflanke in die kleine Bucht der Seestadt bugsiert. Dort wurde es an der Landseite und nicht weit vom Kopf der großen Brücke vertäut. Bald würden andere Menschen aus dem Süden kommen und einige Fässer mitnehmen, andere mit Gütern füllen, die sie mitgebracht hatten und die für die Waldelben stromauf bestimmt waren. In der Zwischenzeit ließ man die Fässer, wo sie lagen, denn sowohl die Elben als auch die Menschen gingen zur Seestadt hinüber: Drüben feierten sie ein großes Fest.

Sie wären ganz schön überrascht gewesen, hätten sie mit ansehen können, was unten am Strand geschah, nachdem sie gegangen und die tiefen Schatten der Nacht herabgesunken waren. Zuerst löste Bilbo ein schweres Faß aus dem Verband, stieß es zur Küste und öffnete es. Ein Stöhnen kam von innen, und heraus kroch ein unglückseliger Zwerg. Nasses Stroh hing in seinem zerzausten Bart.

Er war so wund und steif, so zerschlagen und zerschunden, daß er sich kaum auf den Füßen halten und die letzten Schritte durch das seichte Wasser tun konnte. Stöhnend legte er sich auf dem Strand nieder. Er hatte einen ausgehungerten, wilden Blick wie ein Hund, der angekettet eine ganze Woche in seiner Hütte vergessen wurde. Es war Thorin. Aber ihr hättet es nur an seiner Goldkette erraten und an der Farbe seiner jetzt sehr schmutzigen und zerlumpten himmelblauen Kapuze mit der fleckigen Silberquaste. Es dauerte geraume Weile, bis er dem Hobbit gegenüber höflich wurde.

»Kurz, seid Ihr lebendig oder tot?« fragte der Hobbit ärgerlich. Wahrscheinlich hatte er vergessen, daß er eine gute Mahlzeit mehr zu sich genommen hatte als die Zwerge. Auch hatte er Arme und Beine frei bewegen können, ganz zu schweigen von der schönen frischen Luft, die er geatmet harte. »Sitzt Ihr noch in Gefangenschaft oder seid Ihr frei? Wenn Ihr etwas zu essen haben und dieses alberne Abenteuer noch weiter fortsetzen wollt – schließlich ist es Euer Abenteuer und nicht das meinige –, so tätet Ihr besser, mit den Armen zu schlagen, die Beine zu massieren und mir zu helfen, die andern herauszuholen, solange die Gelegenheit noch günstig ist.«