Ihre Pläne waren bald gemacht. Der Meister blieb mit den Kindern und Frauen, den Alten und Kranken zurück. Einige Handwerker und viele geschickte Elben gesellten sich zu ihnen. Es wurden Bäume gefällt und Holz gesammelt, das man ihnen aus dem Nachtwald den Fluß herab zuschickte. Dann begannen sie, für den nahenden Winter Vorsorge zu treffen und zahlreiche Hütten am Ufer zu errichten. Auch planten sie unter der Leitung des Meisters eine neue Stadt, die noch schöner und großzügiger als die alte angelegt werden sollte – allerdings nicht am selben Platz. Sie verlegten sie weiter nordwärts, höher das Ufer hinauf, denn sie hatten für alle Zeiten Furcht vor dem Wasser, in dem der tote Drache lag. Nie wieder würde er zu seinem goldenen Schlaflager zurückkehren. Kalt wie Stein lag er auf dem Grund der Untiefe ausgestreckt. Dort konnte man noch viele Jahre lang bei ruhigem Wetter seine gewaltigen Knochen zwischen den zerstörten Pfählen der alten Stadt sehen.
Aber nur wenige wagten es, den verfluchten Ort zu überqueren, und keiner versuchte je, in das zitternde Wasser hinabzutauchen und die kostbaren Juwelen zu bergen, die von seinem verrottenden Panzer herabfielen.
Alle waffenfähigen Männer aber und der größte Teil der Mannschaft des Elbenkönigs machten sich zum Aufbruch bereit, nach Norden zum Einsamen Berg. So durchschritt am elften Tage nach dem Fall der Stadt die Vorhut das Felsentor am Ende des Sees und erreichte die vom Drachen verwüsteten Länder.
15
Die Wolken sammeln sich
Und nun wollen wir zu Bilbo und den Zwergen zurückkehren. Die ganze Nacht hindurch wachte einer von ihnen, aber als der Morgen kam, hatte keiner Anzeichen einer Gefahr gehört oder gesehen.
Immer dichter jedoch sammelten sich die Vogelschwärme. Ihre Scharen kamen von Süden geflogen.
Und unaufhörlich schrien und klagten die Krähen, die den Berg nie verlassen hatten.
»Etwas Merkwürdiges geschieht!« sagte Thorin. »Die Zeit für den Herbstzug ist vorbei. Und dies sind Vögel, die im Land bleiben. Da sind Stare und ganze Scharen von Finken, und weiter drüben kreisen zahllose Aaskrähen, als sollte hier eine Schlacht stattfinden.«
Plötzlich zeigte Bilbo hinaus: »Da ist auch die alte Drossel wieder!« rief er. »Sie ist offenbar davongekommen, als Smaug die ganze Bergseite zerschmetterte. Aber ich vermute, daß die Schnecken droben vernichtet wurden.«
Wirklich, die alte Drossel war wieder da. Und als Bilbo auf sie zeigte, flog sie heran und setzte sich dicht vor ihnen auf einen Stein. Dann schlug sie mit den Schwingen und sang. Endlich legte sie den Kopf schief, als ob sie lauschte, und wieder sang sie, und wieder lauschte sie.
»Ich glaube sie will uns etwas sagen«, meinte Balin. »Aber ich kann leider der Rede dieser Vögel nicht folgen, sie ist zu schnell und zu schwierig. Könnt Ihr sie vielleicht verstehen, Beutlin?«
»Nicht sehr gut«, entgegnete Bilbo (genaugenommen konnte er überhaupt nichts verstehen)."Aber der alte Bursche scheint furchtbar aufgeregt zu sein.«
»Ich wünsche bloß, es wäre ein Rabe«, sagte Balin.
»Und ich dachte, Ihr könntet Raben nicht leiden! Mir schien, Ihr wäret ihnen lieber aus dem Weg gegangen, als wir hier heraufkamen.«
»Das waren Krähen! Verdächtig aussehende, häßliche Gesellen und roh obendrein. Ihr hättet bloß hören sollen, was für Schimpfworte sie hinter uns herriefen. Raben jedoch sind ganz anders. Für gewöhnlich herrschte große Freundschaft zwischen ihnen und Thrors Volk. Oft brachten sie uns geheime Nachrichten. Sie wurden mit blitzenden Gegenständen belohnt, auf die sie rein närrisch waren und die sie in ihren Nestern verbargen. Sie leben viele Jahre, ihr Gedächtnis ist lang, und sie überliefern die Weisheit ihren Kindern. Als ich noch ein junger Zwergenbursche war, kannte ich manchen von den Raben persönlich. Diese Anhöhe wurde Rabenberg genannt, weil ein gescheites, berühmtes Rabenpaar hier hauste, der alte Carc und seine Frau. Sie nisteten genau über dem Wachraum. Aber ich glaube nicht, daß sich noch einer vom alten Stamm hier aufhält.«
Kaum hatte er geendet, als die Drossel einen schrillen Pfiff ausstieß und unverzüglich davonflog.
»Wir verstehen sie nicht«, sagte Balin, »aber ich bin sicher, daß dieser alte Vogel uns verstanden hat.
Haltet gut Wache und seht zu, was geschieht.«
Nicht lange, und sie hörten ein Flügelschlagen. Die Drossel kehrte zurück. Und mit ihr kam ein uralter, fast blinder Vogel, der nur noch schwerfällig flog und einen kahlen Kopf hatte. Es war ein hochbetagter, außerordentlich großer Rabe. Steif setzte er sich vor ihnen auf den Boden, schlug müde ein paarmal mit den Schwingen und hüpfte Thorin entgegen.
»O Thorin, Sohn von Thrain, und Balin, Sohn von Fundin, krächzte er (Bilbo verstand, was er sagte, denn er benutzte die gewöhnliche und nicht die Vogelsprache). »Ich bin Roäc, Sohn von Carc. Carc ist tot, aber Ihr kanntet ihn einst gut. Es ist zwar schon einhundertdreiundfünfzig Jahre her, daß ich aus dem Ei kroch, aber nie werde ich vergessen, was mein Vater mir sagte. Jetzt bin ich Herr der großen Bergraben. Wir sind nur wenige, aber wir erinnern uns gut an den König der alten Zeiten. Die meisten meines Volkes sind unterwegs, denn es stehen im Süden wichtige Ereignisse bevor, Ereignisse, die Euch freuen, aber auch andere, die Euch Sorge machen werden.
Schaut, die Vögel kommen aus Süd und Ost und West zum Berg und nach Dal zurück, denn das Wort geht um: Smaug ist tot!«
»Tot! Tot?« schrien die Zwerge. »Tot! Dann haben wir unnütz Angst vor ihm gehabt – dann ist der Schatz unser!« Sie sprangen auf und vollführten Luftsprünge vor Freude.
»Ja, tot«, sagte Roäc. »Die Drossel hier – mögen ihr nie die Federn ausfallen – sah ihn sterben. Wir dürfen ihren Worten glauben. Sie sah ihn in der Schlacht von Esgaroth fallen, drei Nächte zuvor, beim Aufgang des Mondes.«
Es dauerte geraume Zeit, bis Thorin die Zwerge dazu brachte, still zu sein und den Nachrichten des Raben weiter zu lauschen.
Als er schließlich die ganze Geschichte des Kampfes erzählt hatte, fuhr Roäc fort: »Soweit die erfreuliche Seite, Thorin Eichenschild. Ihr könnt ohne Gefahr zu Eurem Palast zurückkehren. Der ganze Schatz ist Euer – im Augenblick. Aber viele versammeln sich, nicht nur die Vögel. Die Nachricht vom Tod des Wächters ist weit und breit im Land umgegangen, und die Sage, die Jahr um Jahr von dem Reichtum Thrors erzählt wurde, ist nie aus dem Gedächtnis geschwunden. Viele sind begierig, einen Anteil an der Beute zu bekommen. Schon ist ein Elbenheer im Anmarsch, und die Aaskrähen sind mit ihnen, denn sie hoffen auf Kampf und Schlacht. Am See murren die Menschen, daß sie all ihr Leid den Zwergen verdanken, denn sie sind obdachlos, und viele starben. Smaug vernichtete ihre Stadt. Auch sie wollen einen Teil von Eurem Schatz, ob Ihr nun lebt oder ob Ihr tot seid.
Eure Klugheit muß entscheiden, was Ihr tun wollt. Aber dreizehn – das ist nur ein kleiner Rest des mächtigen Volkes von Durin, das einmal hier lebte und heute weit zerstreut ist. Wenn Ihr auf meinen Rat hören wollt, so traut nicht dem Meister der Seemenschen, sondern dem, der den Drachen mit seinem Bogen erschossen hat. Es ist Bard aus dem Stamm derer von Dal, Abkomme Girions; er ist ein grimmiger, aber gerechter Mann. Wir möchten nach all der Verwüstung wieder Frieden sehen zwischen Zwergen und Menschen und Elben wie es früher war. Aber es kann Euch viel Gold kosten.
Ich habe gesprochen.«
Da brach Thorin in Zorn aus. »Unser Dank, Roäc, Carcs Sohn!« sagte er rauh. »Ihr und Euer Volk sollen nicht vergessen werden. Aber kein Gran unseres Goldes soll Dieben oder Gewalttätigen zufallen, solange wir noch einen Atemzug tun. Wenn Ihr uns mehr noch zu Dankbarkeit verpflichten wollt, so bringt uns Nachricht über jeden, der heranzieht. Auch möchte ich Euch bitten, wenn einer von euch noch jung und stark beschwingt ist: Sendet Boten zu unseren Verwandten in den Bergen des Nordens, westlich oder östlich von hier, und erzählt ihnen von unserer gefährlichen Lage. Aber fliegt zuerst zu meinem Vetter Dain in die Eisenberge, denn er hat viele gut bewaffnete Leute und wohnt uns am nächsten. Bittet ihn um höchste Eile!«