Kaum war Bombur gegangen, da streifte Bilbo seinen Ring an, befestigte das Tau, glitt die Mauer hinunter und war verschwunden. Fünf Stunden hatte er vor sich. Bombur würde schlafen (er konnte jederzeit schlafen, und seit dem Abenteuer im Nachtwald versuchte er immer wieder, noch einmal der wunderbaren Träume von damals habhaft zu werden). Alle anderen arbeiteten unten mit Thorin. Es war unwahrscheinlich, daß einer heraufkam, ehe die Reihe, Wache zu halten, an ihm war.
Es war sehr dunkeclass="underline" Und als Bilbo den kürzlich erst angelegten Steig verlassen hatte und zum unteren Flußlauf herunterkletterte, war ihm der Weg unbekannt. Endlich gelangte er zu jener Flußbiegung, wo er, wenn er das Lager erreichen wollte, das Wasser überqueren mußte. Das Flußbett war dort zwar seicht, aber auch sehr breit, und es war für einen kleinen Hobbit durchaus nicht leicht, hinüberzugelangen. Er hatte es indessen fast geschafft, als er auf einem runden Stein ausglitt und mit einem Aufklatschen ins kalte Wasser fiel. Kaum war er das andere Ufer hinaufgeklettert, zitternd und unter Gespritze, als Elben mit brennenden Laternen im Dunkel nach der Ursache des Geräuschs suchen kamen.
»Das war kein Fisch«, sagte einer. »Das muß ein Spion sein. Tut die Laternen weg. Sie helfen ihm mehr als uns, falls es dieses merkwürdige kleine Wesen ist, das ihr Diener sein soll.«
»Diener, in der Tat. schnaufte Bilbo. Und mitten in seinem Schnaufen mußte er herzhaft niesen.
Sogleich stürzten die Elben auf das Geräusch zu.
»Macht Licht an!« sagte Bilbo. »Ich bin hier, falls ihr mich sucht!« Und er streifte den Ring ab und sprang hinter einem Stein hervor.
Trotz ihrer überraschung ergriffen sie Bilbo sofort. »Wer seid Ihr? Seid Ihr der Hobbit von den Zwergen? Was macht Ihr hier? Wie konntet Ihr so weit durch unsere Postenkette kommen?« fragten sie ihn.
»Ich bin Mister Bilbo Beutlin«, antwortete er, »ein Gefährte von Thorin, wenn ihr es wissen wollt. Euren König kenne ich gut vom Sehen – vielleicht kennt er mich nicht so gut. Aber Bard wird sich meiner erinnern. Und Bard möchte ich jetzt sprechen.«
»Wirklich!« sagten sie. »Und was habt Ihr dabei vor?«
»Das, meine guten Elben, ist meine eigene Sache. Aber wenn ihr jemals in eure Wälder heimkehren und diesen trostlos kalten Platz verlassen wollt«, antwortete er zähneklappernd, »dann bringt mich eilig zu einem Feuer, wo ich trocknen kann und dann laßt mich, so schnell es geht, mit euren Führern sprechen. Ich habe nur eine oder zwei Stunden Zeit.«
So also kam es, daß etwa zwei Stunden, nachdem er sich aus dem Tor gestohlen hatte, Bilbo an einem warmen Feuer vor einem großen Zelt saß, und neben ihm saßen (und starrten ihn immer noch wie ein Weltwunder an) der Elbenkönig und Bard.
Ein Hobbit in Elbenrüstung, teilweise in eine alte Wolldecke gewickelt, war kein alltäglicher Anblick.
»Ihr wißt«, sagte Bilbo in seinem schönsten Geschäftston, »daß diese ganze Geschichte ein Unding ist.
Und was mich persönlich angeht: Ich bin es satt. Ich will zurück, nach Hause, wo die Leute vernünftiger sind. Aber ich habe ein geschäftliches Interesse an der Sache. Um genau zu sein: Mein Schatzanteil beläuft sich auf ein Vierzehntel, wie ein Brief besagt, den ich glücklicherweise aufgehoben habe.« Aus der Brusttasche seines alten Rocks, den er immer noch über seiner Rüstung trug, zog er den eng gefalteten, zerknitterten Brief Thorins, jenen Brief, den er unter der Uhr auf dem Kaminsims gefunden hatte, im Mai!
»Ein Anteil an den Gewinnen, versteht Ihr«, fuhr Bilbo fort.
»Das gibt mir zu denken. Persönlich bin ich nur zu geneigt, Eure Ansprüche sorgfältig zu erwägen und was Rechtens ist, vom Gesamtschatz abzuziehen, bevor ich meine eigenen Ansprüche stelle. Aber Ihr kennt Thorin Eichenschild nicht so gut, wie ich ihn jetzt kenne. Ich versichere Euch: Er ist bereit, auf seinem Goldhaufen sitzen zu bleiben und zu verhungern, wenn Ihr nicht abzieht.«
»Meinetwegen soll er«, sagte Bard. »Solche Narren verdienen es, daß sie verhungern.«
»Ganz recht«, erwiderte Bilbo. »Ich verstehe Eure Ansicht. Indessen kommt der Winter rasch heran.
Nicht lange, und Ihr habt Schnee, die Verpflegung wird schwierig – selbst für Elben, meine ich. Und dann wird es noch andere Schwierigkeiten geben. Ihr habt noch nichts von Dain und den Zwergen der Eisenberge gehört.«
»Natürlich. Es ist schon eine lange Zeit her. Aber was hat das jetzt mit uns zu tun?« fragte der König.
»Das habe ich mir gedacht. Wie ich sehe, habe ich Neuigkeiten gehört, die Ihr noch gar nicht kennt.
Dain, das kann ich Euch verraten, ist zu dieser Stunde weniger als zwei Tagemärsche von hier entfernt und hat mindestens fünfhundert grimmige Zwerge mit sich. Ein gut Teil hat Erfahrung aus den schrecklichen Kriegen zwischen Zwergen und Orks, von denen Ihr ohne Zweifel gehört habt.
Wenn sie hier ankommen, wird es ernste Verwicklungen geben.«
»Warum erzählt Ihr uns das? Verratet Ihr Eure Freunde, oder droht Ihr uns?« fragte Bard grimmig.
»Mein lieber Bard«, quietschte Bilbo, »seid bitte nicht so voreilig! Wie mißtrauisch Ihr seid! Ich will nichts anderes, als allen Beteiligten Kummer ersparen. Und jetzt möchte ich Euch ein Angebot machen.«
»Laßt hören!« sagten sie.
»Ihr sollt es sehen!« sagte Bilbo. »Hier ist es!« Und er zog den Arkenjuwel heraus und warf die Verpackung weg.
Selbst der Elbenkönig, der an den Anblick erlesener Schönheit gewöhnt war, stand vor Verwunderung auf Auch Bard schaute und staunte und sagte kein Wort. Es war, als ob eine Kugel mit Mondlicht gefüllt wäre und vor ihnen in einem Netz hinge, das aus den Strahlen kühlglitzernder Sterne gewebt worden war.
»Dies ist Thrains Arkenjuwel«, sagte Bilbo, »das Herz des Berges. Und es ist auch Thorins Herz. Er schätzt es mehr als einen ganzen Fluß aus lauterem Gold. Ich gebe es Euch. Ich will Euch helfen, damit Ihr leichter mit Thorin verhandeln könnt.« Und damit gab Bilbo, nicht ohne daß ihm ein Schauder den Rücken hinunterlief, mit einem leisen Zögern des Bedauerns den wunderbaren Stein an Bard. Bard hielt ihn ganz benommen in der Hand.
»Aber wieso gehört er Euch und Ihr könnt ihn hergeben?« fragte er schließlich mit sichtbarer Anstrengung.
»Ach«, entgegnete der Hobbit, der sich gar nicht wohl in seiner Haut fühlte. »So ganz richtig gehört er mir wohl nicht. Aber ich bin bereit, für den Juwel auf alle meine Ansprüche zu verzichten, versteht Ihr? Mag sein, daß ich ein Meisterdieb bin – jedenfalls nennen sie mich so. Ich selber habe mich wirklich nie als einer gefühlt. Aber ich bin ein ehrlicher Meisterdieb, hoffe ich, mehr oder weniger jedenfalls. Und jetzt gehe ich zurück, und die Zwerge mögen mit mir anstellen, was sie wollen. Ich hoffe, Ihr jedenfalls findet meine Absicht gut.«
Der Elbenkönig blickte Bilbo aufs neue voll Verwunderung an. »Bilbo Beutlin«, sagte er, »Ihr seid es mehr wert, die Rüstung eines Elbenprinzen zu tragen, als mancher, der hübscher darin aussah. Aber es sollte mich wundern, wenn Thorin Eichenschild Eure Tat nicht anders einschätzt. Ich kenne die Zwerge vielleicht besser als Ihr. Und so rate ich Euch: Bleibt bei uns. Ihr sollt uns in Ehren dreifach willkommen sein.«
»Jedenfalls herzlichen Dank«, erwiderte Bilbo mit einer Verbeugung. »Aber ich meine, daß ich meine Freunde nicht verlassen darf Schließlich sind wir miteinander durch dick und dünn gegangen. Und dem alten Bombur versprach ich, ihn um Mitternacht zu wecken. Wirklich, ich muß gehen, und es eilt sogar.«
Sie mochten sagen, was sie wollten – Bilbo war nicht zum Bleiben zu bewegen. Eine Eskorte geleitete ihn, und als er ging, grüßten ihn sowohl der König als auch Bard mit Ehrerbietung. Wie sie durchs Lager kamen, stand ein alter Mann, der einen dunklen Mantel trug, vor einem Zelteingang auf, wo er gerade gesessen hatte. Er schritt ihnen entgegen.
»Gut gemacht, Mister Beutlin!« sagte er und klopfte Bilbo auf den Rücken. »Es steckt immer noch mehr in Euch, als einer annehmen sollte!« Es war Gandalf Zum erstenmal seit vielen, vielen Tagen fühlte Bilbo sich wirklich glücklich. Aber da war keine Zeit, all die Fragen zu stellen, die sich ihm sofort aufdrängten.