»Alles zu seiner Zeit!« sagte Gandalf. »Wenn ich mich nicht irre, geht Euer Abenteuer seinem Ende zu.
Allerdings steht Euch sehr bald eine unerfreuliche Zeit bevor. Aber haltet durch! Es kann sein, daß Ihr gut durchkommt. Es geht etwas vor, von dem selbst die Raben noch nichts gemerkt haben. Gute Nacht!«
Verwirrt, aber ermutigt, hastete Bilbo weiter. Er wurde zu einer sicheren Furt geleitet und trocken ans andere Ufer gebracht. Dann sagte er den Elben Lebewohl und stieg vorsichtig hinauf zum Eingangstor. Eine große Müdigkeit überfiel ihn. Indessen erreichte er rechtzeitig vor Mitternacht die Mauer. Noch hing das Tau so, wie er es zurückgelassen hatte, und er kletterte hinauf. Er band es los und verbarg es. Dann setzte er sich auf die Mauer und überlegte angestrengt, was jetzt geschehen würde.
Um Mitternacht weckte er Bombur. Dann legte er sich, in seine Schlafdecke eingewickelt, in seiner Ecke nieder, ohne die Dankesrede des alten Zwerges anzuhören (die, so meinte er, er wohl schwerlich verdient hätte). Bald war er tief eingeschlafen und vergaß all seinen Kummer bis zum Morgen. Genau gesagt, er träumte von Eiern und Schinken.
17
Die Wolken bersten
Früh erklangen am nächsten Tag die Trompeten im Lager. Bald sah man einen einzelnen Eilboten den engen Steig entlanglaufen. In einiger Entfernung blieb er stehen und rief zur Mauer hinauf, ob Thorin jetzt eine neue Abordnung anhören wolle, denn neue Nachrichten seien eingetroffen, die Lage habe sich geändert.
»Dain«, sagte Thorin, als er es hörte. »Sie haben Wind bekommen von seinem Anmarsch. Ich habe mir gedacht, daß das ihre Stimmung ändert. Sagt ihnen, nur wenige sollen kommen, und ohne Waffen. Dann werde ich sie anhören«, rief er dem Boten zu.
Gegen Mittag sah man, wie das Banner des Waldreiches und das des Sees herangetragen wurden.
Eine Schar von zwanzig Leuten nahte. Am Anfang des schmalen Steiges legten sie Schwert und Speer nieder, und dann traten sie an die Mauer heran. Die Zwerge wunderten sich sehr, daß sich Bard und der Elbenkönig unter ihnen befanden. Vor ihnen stand ein alter Mann in Mantel und Kapuze und trug ein von starken Eisenbändern umfaßtes Holzkästchen.
»Seid gegrüßt, Thorin!« sagte Bard. »Seid Ihr noch immer derselben Meinung?«
»Meine Meinung ändert sich nicht mit einigen Sonnenauf und untergängen«, antwortete Thorin. »Seid Ihr gekommen, müßige Fragen zu stellen? Das Elbenheer ist noch immer nicht abgezogen, obgleich ich es verlangt habe. Bis dahin kommt Ihr vergeblich, wenn Ihr mit mir verhandeln wollt.«
»Und es gibt gar nichts, für das Ihr ein Gran Eures Goldes abgeben wollt?«
»Nichts, das Ihr oder Eure Freunde anzubieten hätten. «
»Und wie ist es mit Thrains Arkenjuwel?« fragte Bard, und in diesem Augenblick öffnete der alte Mann das Kästchen und hielt den edlen Stein hoch. Weiß strahlend glänzte er im Morgenlicht.
Fassungslos vor Staunen und Verwirrung stand Thorin da. Keiner sagte etwas. Lange Zeit währte das Schweigen.
Dann brach schließlich Thorin die Stille, und seine Stimme zitterte vor Zorn. »Dieser Stein gehörte meinem Vater, dieser Stein ist mein Eigentum, rief er. »Wie käme ich dazu, mein Eigentum zu erkaufen?« Aber er konnte seine Verwunderung nicht länger zurückhalten und fügte hinzu: »Doch wie fiel das Erbe meines Hauses Euch in die Hände – falls es nicht sinnlos ist, Diebe danach zu fragen?«
»Wir sind keine Diebe«, antwortete Bard. »Wir wollen Euch Euer Eigentum gegen unser Eigentum zurückgeben.«
»Wie habt Ihr ihn bekommen?« schrie Thorin in steigender Wut.
»Ich war es«, quietschte Bilbo, »der ihnen den Stein gab.« Und er schaute in Todesängsten über die Mauer hinweg.
»Ihr! Ihr!« schrie Thorin, drehte sich Bilbo zu und er griff ihn mit beiden Händen. »Elender Hobbit! Ihr zu kurz geratener – Meisterdieb!« Die Worte gingen ihm aus, und er schüttelte Bilbo wie ein Kaninchen.
»Beim Bart von Durin! Ich wünschte, Gandalf wäre hier! Verflucht soll er sein, warum hat er Euch bloß ausgewählt. Möge sein Bart verdorren! Und was Euch angeht: In die Klippen werde ich Euch schmettern!« schrie er und hob Bilbo hoch in die Luft.
»Halt! Euer Wunsch ist erfüllt!« sagte eine Stimme. Der alte Mann, der das Kästchen trug, schlug Mantel und Kapuze zurück. »Hier ist Gandalf! Und das zur rechten Zeit, scheint es. Wenn Ihr meinen Meisterdieb auch nicht mögt, so krümmt ihm bitte kein Haar! Stellt ihn auf die Füße. Und dann hört zu, was er zu sagen hat!«
»Ihr steckt alle unter einer Decke«, schnaubte Thorin und setzte Bilbo auf die Mauer nieder. »Nie wieder will ich mit einem Zauberer und seinen Freunden etwas zu schaffen haben. Was habt Ihr zu sagen, Rattensohn?«
»Lieber Himmel, lieber Himmel«, stöhnte Bilbo. »Es ist mir außerordentlich peinlich, glaubt mir. Aber vielleicht erinnert Ihr Euch, daß Ihr gesagt habt, ich solle mir mein Vierzehntel selbst auswählen?
Vielleicht nahm ich das allzu wörtlich – ich habe mir sagen lassen, daß Zwerge in Worten höflicher sind als in Taten. Es gab ja einmal eine Zeit, da schien es, als ob auch Ihr überzeugt wäret, daß ich Euch von einigem Nutzen war. Rattensohn! Ist das Eure Erkenntlichkeit, die Ihr mir versprochen habt, Thorin? Nehmt es, wie es ist: Ich habe über meinen Anteil verfügt, wie ich es für richtig hielt. Und laßt es gehen, wie es gehen muß.«
»Das will ich«, sagte Thorin finster. »Und damit will ich auch Euch gehen lassen. Mögen wir uns nie wieder begegnen!« Dann wandte er sich um und sprach über die Mauer. »Ich bin verraten«, sagte er.
»Ihr habt es richtig eingefädelt: Auf den Arkenjuwel kann ich nicht verzichten, ich muß ihn wiedererlangen, er ist der Schatz meines Hauses. Für diesen Stein will ich ein Vierzehntel des Hortes in Silber und Gold hingeben, abgesehen von den Edelsteinen. Das soll der versprochene Anteil des Verräters sein, und mit diesem Lohn mag er gehen. Und Ihr könnt teilen, wie Ihr wollt. Wenig genug wird ihm übrigbleiben, daran zweifle ich nicht. Nehmt ihn jetzt, wenn Ihr ihn lebendig haben wollt.
Kein freundschaftliches Band verbindet mich mehr mit ihm. Und jetzt schert Euch hinunter zu Euren Freunden«, sagte er zu Bilbo, »oder ich werfe Euch hinunter!«
»Und wie steht es mit dem Silber und dem Gold?« fragte Bilbo.
»Das soll folgen, sobald wir es einrichten können«, antwortete Thorin. »Aus den Augen!«
»Bis dahin behalten wir den Stein«, rief Bard zurück.
»Der König unter dem Berg erweist sich nicht gerade als besonders großherzig«, sagte Gandalf. »Aber die Zeiten können sich ändern.«
»Das können sie in der Tat«, antwortete Thorin. Und schon erwog er, ob er nicht mit Hilfe Dains den Arkenjuwel erobern und den Anteil Bilbos behalten konnte, so sehr lastete der verderbliche Zauber des Schatzes auf ihm.
Bilbo wurde die Mauer hinuntergelassen, und er ging mit einem Nichts für all seine Mühe – abgesehen von der Rüstung, die Thorin ihm vorher schon gegeben hatte. Mehr als einer unter den Zwergen schämte sich tief im Herzen und trauerte über Bilbos Abschied.
»Lebt wohl!« rief er ihnen zu. »Als Freunde wollen wir uns wiedersehen.«
»Verschwindet!« schrie Thorin. »Ihr tragt eine Rüstung, die mein Volk geschmiedet hat und die viel zu gut ist für Euch. Pfeile können sie nicht durchbohren, aber wenn Ihr nicht schnell macht, spieße ich Euch bei Euren elenden Füßen auf! Also schnell, fort mit Euch!«
»Nicht so hastig!« sagte Bard. »Wir lassen Euch Zeit bis morgen. Mittags kommen wir zurück, und dann werden wir sehen, ob Ihr jenen Teil aus dem Schatz gebracht habt, der für diesen Stein ausgesetzt ist. Ist das ohne Trug geschehen, dann ziehen wir ab, und das Elbenheer kehrt in den Wald zurück. Inzwischen lebt wohl!«
Damit gingen sie in das Lager zurück. Aber Thorin sandte Boten über Roäc an Dain, ließ ihn davon unterrichten, was geschehen war, und bat ihn, rasch anzurücken.
Der Tag verging, und die Nacht verging. Am nächsten Tag sprang der Wind nach Westen um, und es war dunkel und trübe. Noch war es früh am Morgen, als ein alarmierender Ruf im Lager umging.