Der Sturm zerriß die Wolken, und die untergehende Sonne ließ den Himmel im Westen rot erglühen.
Als Bilbo in der Dunkelheit das plötzliche Aufleuchten sah, drehte er sich um. Und da schrie er auf, denn er hatte etwas bemerkt, was sein Herz höher schlagen ließ: schmale, dunkle Schwingen, königlich vor dem fernen Lichtstreifen.
»Die Adler!« schrie Bilbo. »Die Adler kommen!« Seine Augen täuschten sich selten. Die Adler kamen mit dem Wind, eine Fluglinie nach der anderen. Es war ein Heer, das sich aus allen Horsten des Nordens gesammelt haben mußte. »Die Adler! Die Adler!« brüllte Bilbo begeistert, tanzte und schwenkte die Arme.
Wenn die Elben ihn auch nicht sehen konnten, so hörten sie ihn doch. Bald nahmen auch sie den Schrei auf, und er hallte im ganzen Tal wider. Viele erstaunte Augen blickten auf, obgleich noch nichts zu sehen war.
»Die Adler!« schrie Bilbo noch einmal, aber in diesem Augenblick schlug schwer ein herabsausender Stein gegen seinen Helm. Bilbo stürzte auf den Felsboden und verlor das Bewußtsein.
18
Der Weg zurück
Als Bilbo wieder zu sich kam, war er buchstäblich nur zu sich selbst gekommen. Er lag auf den flachen Steinen des Rabenberges, und keiner war bei ihm. Es war ein wolkenloser, wenn auch sehr kalter Tag.
Bilbo klapperte mit den Zähnen, und obgleich er so kalt wie Stein war, brannte sein Kopf wie Feuer.
Jetzt möchte ich bloß wissen, was geschehen ist? fragte er sich. Jedenfalls bin ich noch nicht einer der erschlagenen Helden. Aber ich vermute, daß auch das noch passieren kann.
Stöhnend setzte er sich auf. Als er in das Tal hinausblickte, konnte er keine lebenden Orks erspähen.
Nach einer Weile, als sein Kopf ein bißchen klarer geworden war, kam es ihm vor, als sähe er Elben drunten zwischen den Felsen. Er rieb sich die Augen. Gewiß, da war auch in einiger Entfernung noch ein Lager in der Ebene. Und was bedeutete das Kommen und Gehen am Haupttor? Da schienen Zwerge eifrig dabeizusein, die Mauer abzutragen. Aber es war totenstill. Kein Ruf, kein Echo, kein Lied. Es war, als stünde eine stumme Trauer in der Luft.
Wie dem auch sei, sagte Bilbo und betastete seinen schmerzenden Kopf, wir scheinen gewonnen zu haben. Doch offensichtlich ist es eine sehr traurige Angelegenheit.
Plötzlich gewahrte er einen Mann, der den Hang heraufkletterte und auf ihn zukam.
»Hallo!« rief Bilbo mit zittriger Stimme. »Hallo! Was ist los?«
»Wer ruft da zwischen den Steinen?« fragte der Mann, hielt an und starrte um sich. Er stand gar nicht weit weg von Bilbo.
Da erinnerte sich der Hobbit an den Ring. Donnerwetter! sagte er zu sich selbst. Die Unsichtbarkeit hat doch seine Nachteile. Sonst hätte ich vermutlich eine angenehme warme Nacht in einem Bett verbringen können. Und dann rief er: »Ich bin es, Bilbo Beutlin, Thorins Kampfgefährte!« und zog rasch den Ring vom Finger.
»Gut, daß ich Euch gefunden habe!« sagte der Mann und trat näher. »Man braucht Euch, und wir haben lange nach Euch gesucht. Ihr wäret schon unter die vielen Gefallenen gerechnet worden, wenn der Zauberer Gandalf nicht gesagt hätte, daß er Eure Stimme an diesem Platz zuletzt hörte. Man hat mich heraufgeschickt, damit ich Euch hier zum letzten Mal suchen soll. Seid Ihr sehr verletzt?«
»Ein häßlicher Hieb auf den Kopf, nehme ich an«, antwortete Bilbo. »Zwar habe ich einen Helm und einen harten Schädel, aber ich bin krank, und meine Beine fühlen sich wie Stroh an.«
»Ich trage Euch hinunter ins Lager«, sagte der Mann und hob ihn mit Leichtigkeit hoch.
Der Mann ging rasch und sicher. Und so dauerte es nicht lang, und Bilbo wurde vor einem Zelt in Dal abgesetzt. Gandalf erwartete ihn. Er trug den Arm in einer Binde. Selbst der Zauberer war nicht ohne Verwundung davongekommen. Im ganzen Heer gab es nur sehr wenige, die die Schlacht ohne Schaden überstanden hatten.
Als Gandalf Bilbo sah, war er hocherfreut. »Beutlin, rief er aus, »wirklich wunderbar! Ihr lebt, welche Freude! Ich zweifelte bereits an Eurem Glück, das Euch sonst immer beisteht. Ein schreckliches Geschäft, diese Schlacht, und beinahe nahm es ein verheerendes Ende. Doch alles andre kann jetzt warten. Kommt!« sagte er und wurde ernst. »Drinnen wartet jemand auf Euch!« Damit führte er den Hobbit ins Zelt.
»Gruß Euch, Thorin«, sagte Gandalf, als er eintrat. »Ich habe ihn gebracht.«
Da lag Thorin Eichenschild, von vielen Wunden bedeckt. Seine zerfetzte Rüstung und die schartige Axt lagen auf dem Boden. Er schaute auf, als Bilbo an sein Lager trat.
»Lebt wohl, guter Dieb«, sagte er. »Ich gehe nun zu den Hallen des langen Wartens, um neben meinen Vätern zu sitzen, bis die Welt erneuert wird. Da ich jetzt alles Gold und Silber lasse und dorthin gehe, wo Reichtümer von geringem Wert sind, möchte ich in Freundschaft von Euch scheiden, und ich möchte zurücknehmen, was ich am großen Tor sagte und tat.«
Bilbo kniete traurig an Thorins Lager nieder. »Lebt wohl, König unter dem Berg!« sagte er. »Dies ist ein bitteres Abenteuer, wenn es so enden muß. Und nicht ein Berg von Gold kann es gutmachen. Aber ich bin froh, daß ich teilhatte an den Gefahren, die Ihr durchstehen mußtet – das ist mehr, als ein Beutlin je verdient hat.«
»Nein«, erwiderte Thorin. »Es steckt mehr Gutes in Euch, als Ihr selbst wißt. Mut und Weisheit in einem schönen Ebenmaß. Wenn mehr von uns Heiterkeit, gutes Tafeln und klingende Lieder höher als gehortetes Gold schätzen würden, so hätten wir eine fröhlichere Welt. Aber traurig oder fröhlich, ich muß Euch jetzt verlassen. Lebt wohl!«
Dann drehte sich Bilbo um. Er ging allein fort, setzte sich nieder und schlug eine Decke um die Schultern, und, ihr könnt es glauben oder nicht, er weinte, bis seine Augen rot und seine Stimme heiser war. Bilbo hatte eine gute kleine Seele. Es dauerte lange, bis er es übers Herz brachte, wieder einen Spaß zu machen. Ein Glück, sagte er schließlich zu sich selbst, daß ich rechtzeitig aufwachte.
Ich wünschte, Thorin wäre am Leben, aber ich bin froh, daß wir in Freundschaft Abschied genommen haben. Du bist ein Narr, Bilbo Beutlin. Du hast ein großes Theater um diesen Arkenstein gemacht. Und doch gab es eine Schlacht. Sie fand statt trotz all deiner Bemühungen, Ruhe und Frieden zu erkaufen.
Aber ich denke, dafür kannst du kaum getadelt werden.
Später erfuhr Bilbo, was geschehen war, während er betäubt dalag. Aber es machte ihm mehr Kummer als Freude. Und jetzt war er sein Abenteuer wirklich leid. Mit Macht zog es ihn zur Reise heimwärts. Doch das hat noch Weile, und so kann ich euch in der Zwischenzeit etwas über die Ereignisse erzählen. Als die Orks sich zum Heereszug versammelten, hatten die Adler sogleich Verdacht geschöpft. Ihrer Wachsamkeit konnte das Treiben der Orks im Gebirge nicht gänzlich verborgen bleiben. So hatten sie sich ebenfalls unter dem Großen Adler der Nebelberge in gewaltigen Scharen gesammelt. Als es aber aus der Ferne nach Kampf zu riechen begann, kamen sie gerade noch vor Toresschluß mit dem Sturm herbeigeeilt. Sie waren es, die die Orks von den Berghängen hinunterfegten, in die Abgründe stürzten oder schreiend und völlig verstört in die Arme ihrer Feinde trieben. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie den Einsamen Berg von Orks gesäubert hatten, und sowohl die Elben als auch die Menschen konnten von allen Seiten her ihren Freunden unten im Tal zu Hilfe eilen.
Aber selbst mit den Adlern als Bundesgenossen waren sie noch an Zahl unterlegen. Und in dieser letzten Stunde erschien Beorn. Keiner wußte, wie und woher er kam. Er kam allein und in Bärengestalt. Ja, er schien in seiner Wut zu einem riesigen Untier geworden zu sein.
Sein Gebrüll klang wie Paukendröhnen und Kanonendonner. Er fegte Wölfe und Orks wie Strohhalme und Federn aus dem Weg. Dann fiel er über die Nachhut her und brach wie ein Donnerschlag durch den Ring, den die Orks um die Zwerge geschlossen hatten. Auf einer niedrigen Hügelkuppe hatten sich die Zwerge um ihre Fürsten geschart. Beorn hielt inne und hob Thorin auf, der von Speeren getroffen war, und er trug ihn aus dem Tumult.