Sohle und schüttelte den Kopf. „Sie haben sich wohl in der Tür geirrt?“ fragte er finster. „Sie sehen so zufrieden aus, daß mir sämtliche Hühneraugen weh tun.“
Sie lachte ihm mitten ins Gesicht. „Herrje, sind Sie ein Giftpilz!“ rief sie. „Sie sollten mal zum Arzt gehen! Beispielsweise zum Doktor Wachsmuth!“
„Wäre zwecklos“, brummte er. „Ich kann allen Leuten helfen, nur mir selber nicht.“
„So sind die Ärzte“, meinte Frau Holzer und wollte weiterreden. Doch sie mußte wieder niesen.
„Gesundheit, Frau Holzer!“ sagte der Kleine Mann.
Da machte der Medizinalrat Stielaugen. „Teufel, Teufel“, knurrte er, „das ist ein Patient nach meinem Geschmack!“ Und schon hatte er Mäxchen gepackt und Frau Holzer die Tür vor der Nase zugeschlagen.
„Warum bist du unzufrieden?“ fragte der Arzt, als sie im Ordinationszimmer waren.
„Ich möchte größer sein“, gab Mäxchen zur Antwort.
„Wie groß?“
„Das weiß ich nicht.“
„Es ist immer dasselbe Theater“, knurrte der Medizinalrat. „Jeder weiß, was er nicht will. Aber was er statt dessen will, das weiß keiner.“ Er holte mehrere bunte Arzneifläschchen aus dem Glasschrank und ergriff einen Löffel. „Wie wär’s mit zwei Meter fünfzig?“ fragte er trocken. „Noch größer kann ich dich nicht machen, sonst stößt du an die Zimmerdecke. Nun? Heraus mit der Sprache!“
„Zwei Meter fünfzig?“ Der Kleine Mann blickte ängstlich zum Kronleuchter hinauf. „Und wenn es ... wenn es mir ... wenn es uns nachher nicht gefällt?“
„Dann geb ich dir ein Gegenmittel, und du wirst wieder kleiner.“
„Also gut“, sagte Mäxchen mit zitternder Stimme. „Probieren wir’s bitte mit zwei Meter fünfzig!“
Der Medizinalrat brummte allerlei in seinen struppigen Bart, schwenkte aus einer grünen Flasche ein paar Tropfen auf den Löffel und befahclass="underline" „Mund auf!“
Der Kleine Mann sperrte den Mund weit auf und spürte eine brennende Flüssigkeit auf der Zunge.
„Hinunterschlucken!“
Der Kleine Mann schluckte den grünen Saft hinunter. Er brannte in der Kehle und rann wie Feuer bis in den Magen.
Der Struwwelbart blickte den Jungen mit funkelnden Augen an und murmelte: „Gleich geht’s los!“ Und er hatte recht.
Plötzlich donnerte es in Mäxchens Ohren. Es zerrte an seinen Armen und Beinen. Die Rippen schmerzten. Die Haare und die Kopfhaut taten weh. Es knackte in den Kniescheiben. Vor den Augen drehten sich Kreise, so bunt wie der Regenbogen, und hundert silberne und goldene Kugeln und Sterne tanzten mittendrin. Er konnte mit knapper Not seine Hände erkennen. Sie wuchsen und wurden immer länger und breiter. Das sollten seine Hände sein?
Schon sah er verschwommen, daß der Glasschrank kleiner wurde, und der Wandkalender senkte sich tiefer und tiefer. Dann klirrte es ein bißchen, weil er mit der Nasenspitze an den Kronleuchter gestoßen war. Und schließlich gab es einen Ruck wie in einem Fahrstuhl, der zu rasch gestoppt wird!
Die bunten Räder vor den Augen drehten sich langsamer. Die Kugeln und Sterne hörten mit ihrem Tanz auf. In den Ohren verebbte der Donner. Die Haare taten nicht länger weh. Die Glieder schmerzten nicht mehr. Und die Stimme des Medizinalrates sagte befriedigt: „Zwei Meter fünfzig.“ Aber wo war er denn, der Doktor Struwwelbart mit dem griesgrämigen Gesicht? Mäxchen blickte sich suchend um. Er hatte die Gardinenstange dicht vor der Nase. Der Kronleuchter, der noch ein wenig klirrte und schwankte, hing in Mäxchens Brusthöhe. Oben auf dem Schrank lag fingerdicker Staub. Und Staub lag auch auf der weißlackierten Holzleiste, die einen halben Meter unter der Zimmerdecke die gelbe Tapete abschloß. In der Ecke hoch über der Tür krabbelte eine schwarze Spinne in ihrem Netz. Mäxchen wich entsetzt zurück. Dabei stieß er mit der Hand gegen ein hohes Bücherregal, und aus der obersten Reihe fiel ein Buch zur Erde.
Der Doktor Struwwelbart lachte. Es klang, als meckere ein alter Ziegenbock. Dann rief er spöttisch: „Ist es denn die Möglichkeit? Ich verwandle ihn in einen Riesen, und der Riese erschrickt vor einer Spinne!“
Mäxchen blickte wütend zu dem Schreibtisch hinunter. Der Medizinalrat meckerte noch immer. „Warum lachen Sie mich aus?“ fragte der Kleine Mann, der plötzlich so groß war. „Schließlich bin ich kein gelernter Riese, sondern war bis vor kurzem nur fünf Zentimeter lang! Haben Sie noch nie gezittert?“
„Nein“, sagte der Struwwelbart. „Niemals. Ich habe Angst nicht nötig. Wenn mich ein Löwe anspränge, verhexte ich ihn noch im Sprung in einen Buchfinken oder in einen Zitronenfalter.“
„Dann sind Sie gar kein Medizinalrat?“
„Nein. Ich bin auch kein Zauberkünstler wie dein Jokus.“ „Sondern?“
„Ich bin ein richtiger und ganz echter Zauberer.“
„Oha“, flüsterte Mäxchen. Er hielt sich vor Schreck am Schrank fest. Und weil der Schrank wacklig war, zitterten beide, der Schrank und der Riese Max.
„Setz dich auf den Stuhl, damit du in den Spiegel schauen kannst!“ befahl der Zauberer. „Du weißt ja noch gar nicht, wie du jetzt aussiehst.“
Mäxchen nahm Platz, blinzelte in den Spiegel, zuckte zusammen und rief außer sich: „Um alles in der Welt! Das bin ich? Das soll ich sein?“ Er hielt entsetzt die Hände vor die Augen.
„Ich finde dich recht passabel“, bemerkte der Zauberer.
„Aber deinen eignen Geschmack, den scheinen wir nicht getroffen zu haben.“
Mäxchen schüttelte den Kopf wie wild und murmelte verzweifelt: „Ich finde mich abscheulich. Eine Giraffe ist nichts dagegen!“
„Wie groß möchtest du denn statt dessen sein?“ fragte der Zauberer. „Aber überleg dir’s diesmal gründlicher!“
„Ich wußte es von Anfang an“, sagte Mäxchen zerknirscht. „Doch dann packte mich die Neugierde, und jetzt könnte ich mich links und rechts ohrfeigen.“
„Wie groß willst du sein?“ fragte der Struwwelbart energisch. „Rede nicht um den heißen Brei herum!“
„Ach“, seufzte Mäxchen, „ach, Herr Zauberer - ich möchte so groß sein wie jeder normale Junge in meinem Alter! Nicht größer und nicht kleiner und nicht dicker und nicht dünner und keine Sehenswürdigkeit wie eine seltene Briefmarke oder ein Kamel mit drei Höckern und nicht frecher und nicht ängstlicher und nicht dümmer oder gescheiter und .“
„Na schön“, knurrte der Zauberer und griff nach einer roten Flasche und dem Löffel. „Ein ganz normaler Bengel willst du werden? Nichts ist leichter. Sperr den Mund auf!“
Mäxchen, der zweiundeinenhalben Meter große Riese, sperrte brav den Mund auf und schluckte den dicken roten Saft. Er leckte sogar den Löffel ab.
Und schon sauste und donnerte es in seinen Ohren. Der Kopf tat weh. Die Rippen und die Gelenke zwickten und krachten. Das Herz klopfte. Die bunten Kreise wirbelten vor seinen Augen wie ein Feuerwerk.
Und dann wurde es still.
„Schau in den Spiegel!“ befahl der Zauberer.
Mäxchen traute sich kaum. Er hob die Lider nur ein paar Millimeter. Doch dann riß er die Augen weit auf, sprang vom Stuhl hoch und warf mit einem Jubelschrei die Arme in die Luft. „Ja!“ schrie er aus Leibeskräften. „Ja! Ja! Ja!“
Und im Spiegel hatte ein Junge die Arme in die Luft geworfen. Ein hübscher Junge von zwölf oder dreizehn Jahren. Mäxchen lief zum Spiegel hin und schlug mit beiden Händen gegen das Glas, als wolle er das Spiegelbild umarmen. „Das bin ich?“ rief Mäxchen.
„Das bist du“, sagte der Zauberer krächzend und lachte. „Das ist Max Pichelsteiner, ein völlig normaler Knabe von fast dreizehn Jahren.“
„Ich bin ja so glücklich!“ sagte Mäxchen leise.
„Hoffentlich bleibt’s dabei“, meinte der Medizinalrat. „Und nun schau, daß du weiterkommst!“