Da der Kleine Mann nicht antwortete, sagte der Professor: „He, junger Freund, hast du die Sprache verloren?“
Es blieb still.
„Mäxchen Pichelsteiner!“ rief der Jokus. „Ich rede mit dir! Wenn du nicht auf der Stelle antwortest, krieg ich Magenschmerzen!“
Kein Wort. Kein Lachen. Nichts.
Da durchfuhr den Jokus ein Schreck, so schnell und grell wie ein Blitz. Er beugte sich über die Streichholzschachtel, riß die Zimmertür auf, stürzte in den Korridor hinaus und schrie: „Mäxchen, wo bist du? Mäxchen!“
Nichts. Totenstille.
Der Jokus rannte ins Zimmer zurück, riß den Telefonhörer von der Gabel und mußte sich setzen, so schwach war ihm zumute. „Zentrale? Verständigen Sie sofort die Kriminalpolizei! Mäxchen ist verschwunden! Der Hoteldirektor ist dafür verantwortlich, daß niemand das Haus verläßt! Kein Gast und kein Angestellter! Fragen Sie nichts! Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe!“
Er knallte den Hörer auf die Gabel, sprang auf, trat zum Nachttisch und feuerte die Streichholzschachtel samt Mäx-chen mit aller Gewalt gegen die Wand!
Denn es war ja gar nicht Mäxchen. Sondern eine der verdammten Nürnberger Spielzeugschachteln mit der kleinen Puppe im graublau gestreiften Schlafanzug.
DAS SIEBZEHNTE KAPITEL
Aufregung im Hotel / Der falsche Etagenkellner / Es riecht nach Krankenhaus / Kriminalkommissar Steinbeiß erscheint / Mäxchens Erwachen / Eine wichtige Durchsage im Rundfunk / Otto und Bernhard / Der Kleine Mann wünscht ein Taxi, und Otto kriegt einen Lachanfall.
Es konnte sich nur um Menschenraub handeln. Doch wer hatte Mäxchen geraubt? Und warum hatte er’s getan? Noch dazu mit allem Vorbedacht? Denn er hatte ja den Kleinen Mann mit der Puppe ausgetauscht, damit man die Entführung nicht sofort entdecken solle!
Eines der Stubenmädchen hatte einen Kellner aus dem Zimmer herauskommen sehen. Nein, sie habe ihn nicht gekannt, aber gedacht, er sei zur Aushilfe aus einem anderen Stockwerk gerufen worden. Doch weder die Etagenchefs noch das Restaurant hatten dergleichen angeordnet.
„Vermutlich war es also überhaupt kein Kellner“, sagte der Hoteldirektor, „sondern ein Verbrecher, der sich eine weiße Jacke übergezogen hatte.“
Das Stubenmädchen fragte: „Warum hat denn der Junge dann nicht um Hilfe geschrien? Ich hätte es todsicher gehört.“
„Man hat ihn betäubt“, erklärte der Jokus. „Riechen Sie nichts?“
Die beiden anderen steckten die Nasen in die Luft und schnupperten. Der Hoteldirektor nickte. „Stimmt, Herr Professor. Es riecht nach Krankenhaus. Chloroform?“
„Äther“, antwortete der Jokus. Er war am Verzweifeln.
Auch Kriminalkommissar Steinbeiß, der die Untersuchung leitete, konnte nichts Tröstliches berichten. Er hielt, als er ins Zimmer trat, eine weiße Kellnerjacke in der Hand. „Wir fanden sie in einer der Mülltonnen, die im Hof stehen. Der Mann ist wahrscheinlich durch den Lieferanteneingang entwischt, noch ehe abgesperrt wurde.“
„Sonst?“ fragte der Hoteldirektor. „Irgendein Fingerzeig?“
„Nichts“, sagte Kommissar Steinbeiß. „Ich habe meine Beamten wieder fortgeschickt. Sie haben eine Stunde lang jeden Menschen, der das Hotel verlassen wollte, nach Streichholzschachteln abgesucht. Es war zwecklos. In keiner Schachtel befand sich der Kleine Mann. In allen Schachteln steckten Streichhölzer.“
„Der Flugplatz, die Bahnhöfe, die großen Ausfallstraßen?“ fragte der Jokus.
„Wir tun, was wir können“, antwortete Steinbeiß. „Viel
Hoffnung habe ich nicht. Eher findet man die sprichwörtliche Stecknadel im Heuschober.“
„Der Rundfunk?“
„Gibt jede halbe Stunde unsere Suchmeldung durch. Auch die von Ihnen ausgesetzte Belohnung von 20 000 Mark wird regelmäßig bekanntgegeben.“
Der Jokus trat auf den Balkon und blickte zum Himmel hinauf. Doch auch dort oben konnte er sein Mäxchen nicht entdecken. Nach einer Weile drehte er sich um und sagte: „Ich möchte die Belohnung erhöhen. Wer uns den entscheidenden Hinweis gibt, erhält von mir 50 000 Mark.“
„Der Rundfunk wird umgehend verständigt“, meinte der Kommissar. „Vielleicht nützt es. Wenn es sich um eine mehrköpfige Bande handelt, könnte einer der Kidnapper singen. 50 000 Mark sind kein Pappenstiel.“
„Warum denn singen?“ fragte das Stubenmädchen. „Für 50 000 Mark singen? Und was hätten wir davon?“
Der Kommissar winkte ungeduldig ab. „Singen ist ein Fachausdruck und bedeutet soviel wie verraten.“
„Ich verstehe das Ganze nicht“, sagte der Hoteldirektor. „Was, um alles in der Welt, will man mit einem geraubten Jungen anfangen, der fünf Zentimeter groß ist und so bekannt wie Chaplin und Churchill? Man kann ihn an keinen anderen Zirkus verkaufen. Man kann ihn nicht einmal privat herumzeigen. Nicht eine Minute lang! Im Handumdrehen wäre die Polizei da.“
Das Stubenmädchen machte ein geheimnisvolles Gesicht. „Vielleicht will man den Herrn Professor erpressen?“ flüsterte sie. „Vielleicht gibt man ihm Mäxchen erst zurück, wenn er nachts ein Paket mit furchtbar viel Geld in einen hohlen Baum gesteckt hat? So was soll vorkommen.“
Der Hoteldirektor zuckte die Achseln. „Dann müßte die Bande aber doch anrufen oder einen Eilbrief schicken!“
„Oder es sind ganz einfach ein paar Verrückte“, fuhr das Stubenmädchen eifrig fort. „Das gibt es nämlich auch. Dann ist man völlig machtlos.“
Wer weiß, was sie noch alles aufs Tapet gebracht hätte, wenn nicht plötzlich Rosa Marzipan ins Zimmer gestürzt und dem Professor aufschluchzend und mit den Worten „Mein armer Jokus!“ um den Hals gefallen wäre.
Hinter ihr erschien, gemessenen Schrittes, Herr Direktor Brausewetter. Er trug den Zylinder in der Hand und an den Händen, wie immer außer im Bett, Glacehandschuhe. Ihre Farbe war heute mittelgrau. Schwarze Handschuhe zog er nur bei Begräbnissen an und weiße nur bei fröhlichen und festlichen Anlässen. In Handschuhfarben war er äußerst wählerisch.
„Lieber Herr Professor“, erklärte er, „wir sind tief bestürzt, und ich soll Ihnen die Anteilnahme aller Kollegen übermitteln. In der Betriebsversammlung wurde vor zehn Minuten der einstimmige Beschluß gefaßt, nicht aufzutreten, ehe der Kleine Mann wieder in unserer Mitte weilt. Bis dahin bleibt der Zirkus Stilke geschlossen.“
„Soll das helfen?“ fragte das Stubenmädchen.
Direktor Brausewetter blickte sie schief an. „Zunächst einmal ist es ein sichtbares Zeichen der Freundschaft und der Solidarität, meine Liebe!“
„Und vielleicht hilft es sogar“, meinte Kommissar Steinbeiß. „Es erhöht die allgemeine Aufmerksamkeit.“
Rosa Marzipan schüttelte die Locken. „Hier kann nur einer helfen.“
Der Hoteldirektor machte große Augen. „Wer denn?“
„Du hast ganz recht“, sagte der Jokus zu Rosa. „Er ist unsre einzige Hoffnung.“
„Wer denn?“ wiederholte der Hoteldirektor.
Das Marzipanfräulein sagte nur: „Mäxchen selber!“
Als der Kleine Mann zu sich kam, brummte ihm der Kopf. Er lag zwar in seiner Streichholzschachtel. Aber die Lampe an der Decke kannte er nicht. Wo war er eigentlich?
Aus einem Radioapparat tönte Tanzmusik. Blauer Tabakrauch kräuselte sich in der Luft. Und plötzlich sagte eine mürrische Männerstimme: „Otto, sieh doch mal nach, ob der Zwerg endlich aufgewacht ist.“ Weil sich nichts rührte, fuhr die Stimme ärgerlich fort: „Ist es dir lieber, wenn ich dir ’ne schriftliche Einladung schicke?“
„Du bist ein viel zu hastiger Typ“, antwortete eine andere Stimme gemütlich. „Das kann nicht gesund sein, Bernhard. Denk an dein Herz!“ Doch dann wurde ein Stuhl gerückt. Es stand jemand schwerfällig auf und kam langsam näher. Wahrscheinlich war es der Mann, der Otto hieß.