Mäxchen schloß die Augen, atmete ruhig und spürte, wie sich jemand über ihn beugte. Otto schnaufte, und er roch wie ein Zigarrengeschäft, das sich neben einer Schnapsfabrik befindet. „Der Knirps schläft immer noch“, sagte Ottos Stimme. „Hoffentlich hast du ihm nicht zuviel Äther auf die Nase getupft, mein lieber Bernhard. Sonst läßt dir Senor Lopez von einem seiner Neger den Schädel maniküren!“
„Halt die Klappe!“ knurrte Bernhards Stimme. „Ich habe den Auftrag vorschriftsmäßig ...“
In diesem Moment brach im Radio die Tanzmusik ab, und eine dritte Stimme erklärte: „Achtung, Achtung! Wir wiederholen eine wichtige Durchsage!“
„Ich fresse einen Besen, wenn das nicht die Polizei .“ begann Otto.
„Ruhe!“ zischte Bernhard.
Mäxchen hielt die Luft an und spitzte die Ohren.
„Wie wir bereits gemeldet haben“, sagte die Rundfunkstimme, „wurde in den Vormittagsstunden der Ihnen allen bekannte Kleine Mann aus seinem Hotelzimmer entführt. Der Täter hatte sich als Etagenkellner verkleidet. Die von ihm hierfür benützte weiße Jacke konnte sichergestellt werden. Die Kriminalpolizei bittet das Publikum um tatkräftige Unterstützung. Professor Jokus von Pokus hat die von ihm ausgesetzte Belohnung auf 50 000 Mark erhöht. Zweckdienliche Beobachtungen wollen Sie bitte an den Rundfunk oder direkt an Kriminalkommissar Steinbeiß weiterleiten. Der Zirkus Stilke läßt mitteilen, daß sämtliche Vorstellungen bis auf weiteres ausfallen. Ende der Durchsage!“ Dann erklang wieder Musik.
Nach einer Weile ließ sich Ottos Stimme ehrfürchtig vernehmen. „Donnerwetter! Dieser Jokuspokus legt sich aber mächtig ins Zeug! 50 000? Das nenn ich leichtverdientes Geld! Du nicht auch, Bernhard? Wie wär’s?“
„Du bist und bleibst ein ausgemachter Hornochse“, knurrte Bernhards Stimme. „50 000? Deswegen gibt man doch nicht eine Lebensstellung auf.“
„Schon gut“, murmelte Otto. „Es war nur so ein Einfall.“ „Du bist kein Mann für Einfälle“, antwortete Bernhard ungnädig. „Überlaß das mir, verstanden? So, und jetzt geh ich telefonieren.“ Ein Stuhl wurde energisch zurückgeschoben. „Und paß inzwischen gut auf den Zwerg auf!“
Als die Zimmertür zugefallen war, wagte es Mäxchen, die Augen einen Spalt zu öffnen. An einem unordentlichen Tisch hockte ein großer glatzköpfiger Mensch und hielt eine leere Flasche gegen das Licht. Das war also Otto!
„Durst ist schlimmer als Heimweh“, sagte Otto zu sich selber und setzte die Flasche auf den Tisch zurück, daß es nur so klirrte.
Jetzt oder nie! dachte Mäxchen und spielte Erwachen. Er gab sich einen solchen Ruck, daß die Streichholzschachtel fast umgekippt wäre. Dazu schrie er: „Hilfe! Wo bin ich?“ Dann blickte er verzweifelt um sich, wimmerte und preßte beide Hände vor den Mund. Es war eine schauspielerische Glanzleistung.
Der völlig überraschte Otto war außerordentlich beeindruckt. Er sprang vom Stuhl hoch und zischte wütend: „Willst du gleich die Klappe halten, du kleines Mistvieh?“
Mäxchen brüllte: „Ich will wissen, wo ich bin! Wie reden Sie denn mit mir? Und wer sind Sie eigentlich? Hilfe! Jokus! Hilfeee!“ Er schrie so laut, weil er dachte, irgendwer in der Nähe könne ihn hören. Aber es rührte sich nichts. Niemand hatte ihn gehört. Außer diesem versoffenen Glatzkopf namens Otto.
„Wenn du noch einmal schreist, kleb ich dir ’n Meter Leukoplast übers Maul“, sagte Otto grimmig.
„Dieser Ton gefällt mir nicht“, entgegnete Mäxchen. „Bestellen Sie mir bitte ein Taxi.“
Daraufhin bekam Otto einen Lachanfall. Es war genauer ein Gemisch aus Lachen, Husten, Niesen und Asthma. Es stand zu befürchten, daß er explodieren würde. Aber er explodierte dann doch nicht. Als er sich endlich wieder beruhigt hatte, wischte er sich die Tränen aus den Augen und japste: „Ein Taxi? Wenn’s weiter nichts ist, mein Herr! Bernhard erkundigt sich gerade nach ’nem Flugzeug!“
DAS ACHTZEHNTE KAPITEL
Wer hat die weiße Kellnerjacke gekauft? / Große Aufregung im , Goldenen Schinken ‘ / Ein Bericht im Abendblatt / Der kahle Otto brüllt / Das leere Haus / Bernhard ist der gefährlichere /Mäxchen untersucht nachts das verteufelte Zimmer.
Die weiße Kellnerjacke war zwei Tage, bevor der Kleine Mann entführt wurde, in der Innenstadt gekauft worden. In einem Fachgeschäft für Berufskleidung. Das hatte die Polizei schließlich festgestellt. Dort gab es Fleischerschürzen, Konditormützen, Ärztekittel, Häubchen für Krankenschwestern, Overalls für Kanalarbeiter, Taucherhelme, Ärmelschoner für Buchhalter, Knieschützer für Parkettler und Pflasterer, kurz, es war ein großer und bunter Laden. Und die Verkäufer waren zu den Kriminalbeamten äußerst zuvorkommend gewesen. Aber wer die weiße Kellnerjacke gekauft und wie er ausgesehen hatte, das wußte niemand mehr.
Rosa Marzipan hatte den Jokus gezwungen, mit ihr in ein Restaurant zu gehen. „Du mußt endlich wieder etwas essen“, hatte sie erklärt. „Du kannst nicht immer im Hotelzimmer sitzen und die Wand anstarren. Das hilft uns auch nicht weiter. Und du selber wirst am Ende krank.“
Nun saßen sie also im , Goldenen Schinken‘, so hieß das Lokal, und der Jokus starrte nicht an die Wand, sondern auf den Teller. Er brachte keinen Bissen hinunter und kein Wort heraus. So ging das nun schon anderthalb Tage, und das Marzipanfräulein machte sich ernste Sorgen. Eine Tasse Fleischbrühe hatte er getrunken. Das war alles.
Um ihn zu trösten, sagte sie: „Morgen, spätestens übermorgen, ist Mäxchen wieder da. Er ist viel zu schlau und zu flink, als daß er sich länger einsperren ließe. Keine zehn Pferde könnten ihn zurückhalten!“
„Es sind leider keine Pferde“, erwiderte der Jokus. „Es sind Verbrecher. Wer weiß, was sie dem kleinen Kerl angetan haben.“ Er seufzte. Dann schüttelte er den Kopf. „Nicht einmal die hohe Belohnung scheint sie zu locken! Dabei hatte ich so gehofft, daß sie mich gerade deswegen anrufen würden.“
„Sie haben Angst vor der Polizei.“
„Ich hätte sie Mäxchen zuliebe nicht verraten“, murmelte der Jokus und starrte auf seinen Teller. Auch Rosa Marzipan hatte keinen Appetit. Aber sie ließ sich’s nicht allzu sehr anmerken, sondern aß ein paar Happen, weil sie dachte, er werde halb aus Versehen mitessen. Es war vergebliche Liebesmühe.
Während sie mit der Gabel in ihrem Kalbsgulasch herumstocherte, sprang plötzlich an einem der anderen Tische ein Gast auf und gab dem Zeitungsverkäufer, der rundum das neueste Abendblatt anbot, eine saftige Ohrfeige. „Was fällt Ihnen ein?“ brüllte der Herr. „Legen Sie sofort meine Streichholzschachtel wieder hin!“
„Bravo!“ rief jemand am Nebentisch. „Von mir kriegt er auch gleich eine Backpfeife!“
„Bei mir hat er dasselbe versucht!“ schrie ein Dritter. „Herr Ober, holen Sie sofort den Geschäftsführer!“
Es war ein richtiger Aufruhr. Der Zeitungsverkäufer hielt
sich die Backe. Die Gäste hielten den Zeitungsverkäufer. Der Oberkellner holte den Geschäftsführer. Der Geschäftsführer winkte einem Pikkolo. Der Pikkolo holte den Polizisten von der nächsten Straßenecke. Der Polizist holte sein Notizbuch aus der Tasche.
„Ich weiß überhaupt nicht, was Sie wollen“, schimpfte der Zeitungsverkäufer. „Dauernd heißt es im Rundfunk, die Bevölkerung soll wachsam sein, weil der Kleine Mann gekid-nappt wurde! Und wenn man dann wachsam ist und beispielsweise in fremde Streichholzschachteln guckt, ob der Kleine Mann vielleicht drinsteckt, kriegt man Ohrfeigen. Das gefällt mir aber gar nicht, Herr Wachtmeister!“
Kaum hatten das die Gäste und der Polizist gehört, waren alle miteinander ein Herz und eine Seele. Jeder entschuldigte sich bei jedem. Und auch der Zeitungsmann ärgerte sich nicht länger. Er verkaufte im Handumdrehen sämtliche Abendblätter aus seiner Umhängetasche und ging befriedigt von dannen.