Mäxchens Sorgen und Ängste wurden größer und größer. Die Polizei und der Jokus fanden ihn nicht. Die hohe Belohnung führte zu nichts. Und er selber wußte auch nicht weiter.
Natürlich hatte er nachts, während der kahle Otto auf der Couch lag und schlief, das Zimmer untersucht. Er war, an der Tischdecke herunter und an der Gardine hoch, aufs Fenster geklettert. Was hatte er gesehen? Auf der anderen Straßenseite eine Reihe Häuser. In der Ferne einen Kirchturm. Und das Fenster war verriegelt.
Er war auf dem Fußboden herumgekrochen und hatte die Wände und vor allem die Türleisten gründlich untersucht. Aber nirgends war auch nur die kleinste Ritze, durch die er sich hätte hindurchzwängen können. Und was wäre denn gewesen, wenn er schließlich im Korridor gestanden hätte? Dort gab es wieder Türen! Die Wohnungstür. Die Haustür. Mindestens diese zwei.
Doch über Ritzen nachzudenken, die es nicht gab, war ja sowieso unnütz. Er saß in dem verteufelten Zimmer fest wie ein Nagel in der Wand. Und die Zeit verging und war nicht zu bremsen. Bald würden die beiden Halunken, von denen er nur die Vornamen kannte, in irgendeinem Flugzeug sitzen. Mit einer unscheinbaren Streichholzschachtel in Bernhards Jackettasche.
Und in der Streichholzschachtel wären keine Streichhölzer. Statt dessen läge, für viele Stunden hübsch chloroformiert, ein gewisses Mäxchen Pichelsteiner in der Schachtel, der berühmte Kleine Mann, von dem die Welt nie wieder etwas hören und sehen würde. Die Welt nicht und, was tausendmal schlimmer war, auch nicht der berühmte Zauberkünstler und Zirkusprofessor Jokus von Pokus.
Mäxchen biß die Zähne zusammen. Ich darf nicht schlappmachen, dachte er. Ich muß aus diesem Zimmer fort. So schnell wie möglich. Es geht nicht? Mir fällt nichts ein? Ich bin dafür zu dumm? Das wäre ja gelacht!
DAS NEUNZEHNTE KAPITEL
Ausführlicher Bericht über Senor Lopez / Die Burg in Südamerika / Bilder von Remscheid und Inkasso / Flugkarten für Freitag / Magenkrämpfe, nicht ganz echt / Der kahle Otto rennt in die Apotheke / Mäxchen sitzt auf dem Gartentor.
Der Mittwoch wurde ein ereignisreicher Tag. Otto hatte schon morgens einen respektablen Schwips und erzählte aus freien Stücken allerlei über den geheimnisvollen Senor Lopez. Später kam Bernhard aus der Stadt zurück, zeigte Otto die Flugkarten für Freitag, die er besorgt hatte, ging aber bald wieder fort, weil er hungrig war.
„Ich werde im ,Krummen Würfel‘ essen“, sagte er, „und in einer Stunde löse ich dich ab.“
„Ist gut“, meinte Otto. „Wenn sie Eisbein mit Sauerkraut haben, sollen sie mir zwei Portionen aufheben. Das wird genügen. Ich habe heute keinen rechten Appetit.“
Als Bernhard gegangen war, bekam Mäxchen plötzlich gräßliche Magenkrämpfe und wimmerte und jammerte, daß sich Otto die Ohren zuhielt. Aber ich glaube, es ist gescheiter, wenn ich zunächst ausführlicher berichte, was der kahle Otto, ein paar Stunden früher über den geheimnisvollen Senor Lopez erzählt hatte.
Also, Otto war schon zum Frühstück betrunken gewesen. Voll wie eine Strandhaubitze. Vielleicht hatte er die Kaffeekanne mit der Schnapsflasche verwechselt gehabt. Oder er hatte versehentlich mit Himbeergeist gegurgelt. Jedenfalls begann er ungefragt:
„Dieser Lopez, das ist ein toller Hecht. Senor heißt Herr. Ein toller Herr, dieser Hecht. Reicher als die Bank von England. An jedem Finger zwei bis drei Ringe. Einen so ’n Ring, und ich kauf die Schweiz! Aber was mach ich mit der Schweiz? Na ja, wie dem auch wolle: Lopez gehört mindestens das vierte Drittel von ganz Südamerika! Kupfer und Zinn und Kaffeebohnen und Silberminen und Hazi ... Hazi ... Haziendas mit lauter Ochsen, von der Weide bis zum Corned beef, marsch marsch, rin in die Konservenbüchsen! Hat ’ne Art Burg drüben. Zwischen Santiago und Valparaiso. Mit eignem Flugplatz und hundert Scharfschützen, die ’ner Stubenfliege die Zigarre glatt aus der Hand schießen.“
Das war zuviel für Mäxchen. Er kicherte.
„Laß das!“ sagte Otto. „Der Lopez, der ist nicht komisch. Das scheint nur so. Wenn irgendwo ’n Gemälde geklaut wird, das wenigstens ’ne Million kostet, hängt’s ’ne Woche später in seiner unterirdischen Galerie. Ob das nun ’n echter Adolf Dürer oder ’n Remscheid oder so ’n moderner Maler ist wie der berühmte Inkasso .“
„Picasso“, korrigierte Mäxchen. „Und Rembrandt und Albrecht Dürer.“
„Ist doch ganz wurscht“, meinte Otto und kippte den nächsten Schnaps hinter die Binde. „Hauptsache, daß die Bilder in dem Lopez seinem Keller hängen. Es weiß bloß niemand. Nicht mal die Interpol. Und sogar wenn die’s wüßte, könnte sie nischt machen. Die Scharfschützen ließen sie gar nicht erst in die Festung rein.“
„Wer ist denn die Interpol?“ fragte Mäxchen.
„’ne Abkürzung und hei ... hei ... heißt Internationale Polizei. Den Bernhard und mich hätte sie beinahe mal geschnappt! Als wir die Zigeunerin geklaut hatten und mit ihr auf ’m Flugplatz von Lissabon in dem Lopez sein Privatflugzeug reinwollten! Ging aber noch mal gut. Na, jetzt is sie schon zwei Jahre drüben in seiner Burg und muß ihm täglich die Karten legen. Ob er an der Börse Aktien kaufen soll oder im Moment nich. Oder ob er was mit der Leber hat, weil er leider säuft und viel zuviel verträgt. Oder ob eins seiner Rennpferde gewinnen wird .“
„Und was ist das nun mit mir?“ fragte Mäxchen gespannt. „Warum wollte er, daß ihr diesmal mich raubt und hinüberbringt?“
Otto schenkte sein Glas voll. Die Flasche war fast leer. Er spülte sich den Mund mit Schnaps, hustete, schnaufte und sagte: „Der Mann langweilt sich, und deshalb sammelt er eben. Bilder und Leute. Als wären’s Briefmarken. Kann gar nich genug kosten. Hat ’n ganzes Ballett rauben lassen. Lauter hübsche Käfer. Die müssen ihm jeden Abend was vortanzen. Denkst du, Lopez läßt die wieder frei? Keine Bohne. Nich mal als Großmütter. Geht nich. Die würden ihn auf der Stelle verpfeifen. Hab ich recht oder stimmt’s? Und ’nen berühmten Professor hält er auch gefangen. Weil der weiß, ob ’n teures Bild echt oder falsch ist.“
„Und wenn ihn der Professor nun anschwindelt?“
„Einmal hat er’s versucht.“ Otto grinste. „Das ist ihm gesundheitlich nich gut bekommen. Für Faxen hat der Lopez kein’ Sinn.“
„Und was will er denn von mir?“ fragte Mäxchen mit zittriger Stimme.
„Keine Ahnung. Haben will er dich, also kriegt er dich, Punktum! Vielleicht weil du ’ne Rarität bist. So wie ’n Kalb mit zwei bis drei Köppen.“
Mäxchen starrte Ottos abstehende Ohren an. Wie ein Gesicht mit Henkeln, dachte er. Und dann dachte er vor allem: Ich muß hier fort! Es wird höchste Zeit!
Daß dann Bernhard aufkreuzte, hab ich auch schon erwähnt. „Am Freitag fliegen wir“, sagte er und zeigte die Flugkarten. Er blieb nicht lange, weil er im ,Krummen Würfel‘ zu Mittag essen und Otto in einer Stunde ablösen wollte, obwohl der Glatzkopf keinen rechten Appetit hatte. Zwei Portionen Eisbein mit Sauerkraut, hatte er gemeint, würden heute genügen.
In einer Stunde kommt Bernhard wieder, dachte Mäxchen. Da heißt es handeln. Die Flugkarten hat er schon. Jetzt oder nie! Deshalb bekam der Kleine Mann plötzlich gräßliche Magenkrämpfe und wimmerte und jammerte, daß Otto sich die Henkel, nein, die Ohren zuhielt.
Wenn ihr es dem betrunkenen Otto nicht weitersagt, verrate ich euch ein Geheimnis. Hört auch bestimmt niemand zu? Nein? Also, ganz im Vertrauen: Mäxchen hatte in Wirklichkeit gar keine Magenkrämpfe! Er hatte auch keine Herzkrämpfe und keine Wadenkrämpfe und keine Schreikrämpfe und keine Schreibkrämpfe. Ihm tat überhaupt nichts weh. Er tat nur so, als ob es täte. Es gehörte zu seinem Plan.