Ehe sich der Angestellte ein wenig erholen konnte, fragte eine Stimme, die er vorher noch gar nicht gehört hatte: „Wozu brauchst du denn die große Puppe mit dem blonden Schnurrbart?“
Der Verkäufer starrte entgeistert auf die Brusttasche des seltsamen Kunden. Mäxchen nickte dem Manne freundlich zu und sagte: „Erschrecken Sie bitte nicht!“
„Doch!“ wimmerte der Verkäufer. „Erst ein Anzug für einen Toten samt der Puppe im Fenster und nun noch ein Heinzel-
männchen im Jackett - das ist zuviel!“ Er verdrehte die Augen und sank auf den Teppich.
„Ist er tot?“ fragte der Junge.
„Nein, er ist nur ohnmächtig“, antwortete der Jokus und winkte dem Geschäftsführer.
„Und wozu brauchen wir die Schaufensterpuppe wirklich?“ fragte der Kleine.
„Das erzähle ich dir später“, sagte der Jokus.
Nachdem der Geschäftsführer herbeigeeilt war und seinen Verkäufer auf einen Stuhl gehoben hatte, damit er dort wieder zu sich käme, trug der Professor erneut seine Wünsche vor. „Ich möchte den marineblauen Einreiher samt der Puppe kaufen, die ihn trägt. Außerdem auch das Hemd, das sie anhat, die Krawatte, die Hosenträger, die Schuhe und die Socken. Was kostet das, bitte?“
Der Geschäftsführer antwortete unsicher: „Das weiß ich nicht genau, mein Herr.“
Der Verkäufer bewegte die blassen Lippen und stammelte: „512 Mark. Bei Barzahlung ein Prozent Skonto. Verbleiben 506 Mark 88 Pfennige.“ Man sieht, es war ein tüchtiger Verkäufer. Dann rutschte er vom Stuhl.
„Er ist wieder in die Ohnmacht gefallen“, stellte Mäxchen sachlich fest.
Als der Geschäftsführer die neue Stimme hörte und den kleinen Jungen in dem großen Jackett sah, kriegte er Stielaugen und klammerte sich verzweifelt an der Stuhllehne fest. „Fällt dieser Herr jetzt auch in Ohnmacht?“ fragte Mäxchen erwartungsvoll.
„Hoffentlich nicht!“ meinte der Professor. „Ein Herrenbekleidungsgeschäft ist ja schließlich kein Krankenhaus!“
Nun, der Geschäftsführer und der Verkäufer erholten sich wieder. Der Kauf kam zustande. Man bestellte ein Taxi. Das Autodach wurde eingerollt, und die Schaufensterpuppe stand, vom Professor festgehalten, aufrecht im Wagen.
„Der Bursche sieht aus wie ein ausländischer Staatsmann zu Besuch!“ rief ein Berliner, als das Taxi vorüberfuhr.
„Das kann kein Staatsmann sein“, meinte ein andrer.
„Wieso eigentlich nicht?“ fragte der erste. „Wer steht denn sonst in Autos rum, als ob’s keine Sitzplätze gäbe?“
„Das ist bestimmt kein Staatsmann“, wiederholte der andere hartnäckig. „Er lächelt nicht, und er winkt uns nicht einmal zu. Das müßte er aber tun, wenn er ein Staatsmann wäre. Man muß deutlich merken, wie kolossal er sich freut, daß er in Berlin ist und sich nicht setzen darf. Sonst ist es kein Staatsmann.“ Das Auto hielt an der Kreuzung, und die zwei Berliner fielen in Trab. Aber bevor sie hinkamen, wurde die Ampel grün, und sie hatten das Nachsehen.
„Außerdem fährt kein Staatsmann in einem gewöhnlichen Taxi“, meinte der eine Mann. „Weder im Sitzen noch im Stehen.“
„Ich bin auch noch nie im Taxi gefahren“, sagte der andere. „Nanu, Herr Nachbar! Sie sind doch nicht etwa ein Staatsmann?“
„Nein. Ich bin Milchmann.“
DAS SECHSTE KAPITEL
Aufregung im Hotel Kempinski / Herr Hinkeldey vermißt plötzlich allerlei, kriegt es wieder und nimmt Reißaus / Was war der Jokus, bevor er Zauberkünstler wurde? / Und wozu hat er die Schaufensterpuppe gekauft?
Auch im Hotel Kempinski, wo Professor Jokus von Pokus wohnte, staunten sie nicht schlecht. An den Kleinen Mann, der auf dem Nachttisch in einer Streichholzschachtel schlief, hatte man sich allmählich gewöhnt. Daß nun aber auch noch eine Schaufensterpuppe von zwei Hausdienern durch die Hotelhalle in den Lift geschleppt wurde, machte den Hoteldirektor und den Portier sichtlich nervös.
Kaum daß die Puppe mitten im Zimmer stand, kam der Direktor hereingestürzt, blickte vorwurfsvoll durch seine Hornbrille und erkundigte sich, was das zu bedeuten habe.
„Was hat was zu bedeuten?“ fragte der Professor freundlich, als begriffe er die Aufregung nicht recht.
„Die Schaufensterpuppe!“
„Ich brauche sie beruflich“, erklärte der Jokus. „Konzertpianisten und Sänger bringen ins Hotel sogar einen Flügel mit, wenn sie auf Gastspielreise sind, und machen stundenlang Musik und anderen Lärm. Sie sind Künstler und müssen üben. Ich bin Zauberkünstler. Ich muß auch üben! Und ich mache bei weitem nicht so viel schönen Radau wie meine musikalischen Kollegen.“ Er faßte den Hoteldirektor am Jackett und klopfte ihm jovial auf die Schulter. „Was bedrückt Sie denn so, lieber Freund?“
„Es wächst uns über den Kopf“, jammerte der Direktor. „Ihr Mäxchen und die beiden Tauben und das weiße Kaninchen und nun noch eine Holzpuppe in blauem Anzug .“
Der Professor drückte den völlig geknickten Herrn väterlich an die Brust und fuhr ihm tröstend übers Haar. „Nehmen Sie’s doch nicht so tragisch! Meine Schaufensterpuppe braucht kein Bett. Sie braucht keine Handtücher. Sie brennt mit der Zigarette keine Löcher in die Tischdecke. Sie zankt das Stubenmädchen nicht aus .“
„Das ist ja alles schön und gut, Herr Professor“, gab der Direktor zu. „Aber Sie haben ja schließlich nur ein Einbettzimmer gemietet! Und jetzt wohnen Sie und der Kleine Mann und drei Tiere und die Puppe drin! Das sind, sage und schreibe, fünf Personen!“
„Aha, daher weht der Wind“, meinte der Zauberkünstler lächelnd. „Wären Sie mit der Übervölkerung Ihres anmutigen Südzimmers einverstanden, wenn ich täglich fünf Mark mehr bezahlte als bisher?“
„Darüber ließe sich reden“, gab der Direktor zögernd zur Antwort. „Ich darf Ihren werten Vorschlag unserer Buchhaltung mitteilen?“
„Sie dürfen!“ erwiderte der Professor, schüttelte dem Direktor lange die Hand und sagte: „Das beste wird sein, Sie machen sich gleich eine Notiz. Hier ist mein Füllfederhalter.“
„Danke schön, ich habe Kugelschreiber und Notizblock stets bei mir. Sie gehören ja zu meinem Beruf. Es ist gewissermaßen mein Handwerkszeug.“ Der Direktor griff schwungvoll ins Jackett. Er suchte und suchte und fand nichts. „Merkwürdig“, murmelte er. „Kein Block! Kein Kugelschreiber! Ich kann sie doch nicht im Büro gelassen haben. Das wäre das erste Mal im Leben.“ Und er suchte immer weiter. Plötzlich wurde er kreidebleich und flüsterte: „Meine Brieftasche hab ich auch nicht bei mir! Es ist eine Menge Geld drin.“
„Nur ruhig Blut“, meinte der Jokus. „Rauchen Sie am besten erst einmal eine Zigarette! Mir dürfen Sie auch eine anbieten. Ich habe Appetit drauf.“
„Mit Vergnügen“, sagte der Direktor und griff bereitwillig in die rechte Tasche. Dann in die linke. Dann in die Hosentaschen. Sein Gesicht wurde lang und immer länger. „Auch vergessen“, stammelte er. „Das Zigarettenetui und das goldene Feuerzeug, beides fehlt ...“
„Ich kann aushelfen“, erklärte der Professor und holte ein Zigarettenetui und ein goldenes Feuerzeug hervor.
Der Hoteldirektor starrte den Professor betroffen an.
„Was ist denn? Fehlt Ihnen etwas?“
„Ich bitte um Entschuldigung“, sagte der Direktor zaghaft, „aber wäre es möglich, daß das Zigarettenetui und das Feuerzeug in Ihrer Hand gar nicht Ihnen gehören, Herr Professor? Sondern mir?“
Der Jokus betrachtete die zwei Gegenstände genau und fragte verblüfft: „Tatsächlich?“
„Auf dem Etui muß mein Monogramm eingraviert sein. Ein G und ein H. Gustav Hinkeldey. So heiße ich nämlich.“
„Ein G und ein H?“ meinte der Professor und blickte prüfend auf das Etui. „Stimmt, Herr Hinkeldey!“ Geschwind gab er die Gegenstände zurück.