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Wütend kletterte er aus dem Wagen, stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte durch das vergitterte Fenster in die Wachstube. Zunächst verschlug es ihm die Sprache. Dann sagte er zu sich selbst: »So etwas gibt’s doch gar nicht.« Er trommelte mit der Hand gegen die Scheibe. »Witschoreck!«, rief er. »Was fällt Ihnen eigentlich ein?«

Wachtmeister Witschoreck saß vorm Schreibtisch und schlief. Neben seinem Stuhl lag die Schäferhündin Diana und schlief. Da half kein Trommeln.

Doktor Heublein rannte zum Tor und schlug mit den Fäusten dagegen. Knarrend bewegte sich der eine eiserne Torflügel. Heublein hörte, wie drinnen der schwere Schlüsselbund klapperte. Um alles in der Welt, sein Gefängnis war nicht abgeschlossen! Er warf sich mit letzter Kraft gegen das massive Tor, bis es so weit aufging, dass er zitternd in den Hof wanken konnte. Dann schob er den Torflügel zu, drehte den Schlüssel im Schloss um und wollte gerade ein bisschen aufatmen. Doch daraus wurde nichts.

Denn er erblickte zwar den Hauptwachtmeister Mühlenschulte, der den Schäferhund Pluto an der Stahlkette hielt, aber sie erblickten ihn nicht. Sie lagen friedlich am Boden und schliefen.

Doktor Heublein ging knieweich über den Hof zum Gefängnisbau hinüber. Ihm sträubten sich die Haare. Auch diese Tür stand offen! Er schlich durch die Korridore. Er stieg von Stockwerk zu Stockwerk. Es war überall dasselbe. Die Gefangenen schliefen. Die Gefängniswärter schliefen. Die Krankenschwester in der Ambulanz schlief. Die Köchin und ihre Lehrmädchen schliefen. Der Heizer und sein Wellensittichpärchen schliefen. Und es schliefen sogar die Fliegen an der Wand.

Doktor Heublein rief in seiner Verzweiflung den Polizeipräsidenten an und berichtete stotternd die unheimliche Neuigkeit. Der Präsident brüllte in den Apparat: »Solche Märchen können Sie Ihrer Frau Großmutter unterm Christbaum erzählen!« Aber er begann nachzudenken. Vielleicht war es gar kein Märchen?

Zehn Minuten später jagte ein Dutzend Streifenwagen durch die Stadt. Die Blaulichter rotierten. Die Martinshörner jaulten. Große Dienstwagen folgten. Im ersten saßen der Polizeipräsident persönlich, Obermedizinalrat Dr. Grieneisen, Kriminalkommissar Steinbeiß und Professor Dickhut, der Direktor des Gerichtschemischen Instituts. Die Passanten blickten verdutzt hinter der wilden Jagd her.

»Warum haben die es denn so eilig?«, fragte eine Frau mit einer schweren Einkaufstasche.

»Vielleicht ist bei jemandem die Milch übergekocht«, meinte ein Schuljunge, der neben ihr stand.

»Du liebe Güte!«, rief sie entsetzt. »Da hab ich also schon wieder vergessen, das Gas abzudrehen!« Und schon machte sie kehrt und rannte um die nächste Ecke.

»Du scheinst ein rechter Lümmel zu sein«, sagte ein streng aussehender Herr.

»Ich will mich nicht loben«, entgegnete der Junge. »Aber man tut, was man kann.«

Der Polizeipräsident saß in der Wachstube und erklärte mit dumpfer Stimme: »Das ist kein Untersuchungsgefängnis, meine Herren. Das ist ein Irrenhaus.« Er betrachtete den schlafenden Wachtmeister Witschoreck und die schlafende Schäferhündin Diana. Auch den schlafenden Hauptwachtmeister Mühlenschulte und den vorjährigen Europameister Pluto musterte er finster. Man hatte die beiden hereingeschleppt. Denn man konnte sie schließlich nicht im Gefängnishof herumliegen lassen.

Obermedizinalrat Grieneisen und Professor Dickhut hatten die zwei Wachtmeister und die zwei Hunde untersucht. Grieneisen sagte: »Kein Fieber. Puls normal. Atmung in schönster Ordnung. Alle vier sind kerngesund.«

»Nur ziemlich müde«, meinte der Polizeipräsident ironisch. »Wann, glauben Sie, wird dieses verrückte Gefängnis endlich aufwachen? Ich muss doch jemanden fragen können, was gestern Nacht passiert ist!«

Doktor Heublein, der Gefängnisdirektor, starrte aus dem vergitterten Fenster und murmelte: »Im Märchen von Dornröschen hat es hundert Jahre gedauert.«

»So viel Zeit haben wir nicht!« Der Polizeipräsident krächzte vor Aufregung. »Dann sind wir längst pensioniert!«

Da ergriff Professor Dickhut das Wort. Von Märchen hielt er nichts. Er war Chemiker. »Amerikanische Kollegen«, sagte er, »haben so genannte humane Kampfstoffe entwickelt, die wir noch nicht kennen. So etwas könnte es gewesen sein. Man schießt Schlafgranaten auf die feindlichen Truppen. Im Nu sinken sie um und schlafen ...«

»Hundert Jahre lang?«

»Ach wo, ein paar Stunden.«

»Und Sie glauben im Ernst, gestern Nacht sei ein Panzer mit amerikanischen Schlafgranaten vorgefahren und habe das Gefängnis bombardiert?«

»Nicht doch, Herr Präsident«, sagte Professor Dickhut lächelnd. »Solche Schlafgifte kann man natürlich dosieren, wenn man sie erst einmal erfunden hat. In Tablettenform, in Sprühdosen, in Kanistern. Man kann damit operieren wie Gärtner, wenn sie Ungeziefer bekämpfen.«

»Ich muss Ihnen glauben«, erklärte der Polizeipräsident. »Sie sind der Fachmann. Es könnte sich so ähnlich abgespielt haben. Ich frage mich nur, warum? Warum und wozu versetzt man ein ganzes Gefängnis in einen modernen Dornröschenschlaf?«

»Ich kenne den Grund«, rief Kriminalkommissar Steinbeiß atemlos. Er war eben aus dem Gefängnisbau zurückgekommen und hatte die Frage gehört. »Man hat zwei Häftlinge gestohlen. Die beiden Halunken, die den kleinen Mann entführt hatten.« Dann stürzte er ans Telefon.

Professor Jokus von Pokus und der kleine Mann saßen, als das Telefon klingelte, in ihrem Hotelzimmer und frühstückten. Der Jokus hob den Hörer ab, meldete sich und rief erfreut: »Guten Morgen, Herr Kommissar. Natürlich ist er hier. Er hat sich wieder einmal mit Erdbeermarmelade voll geschmiert. Na ja, als Millionär darf er das. - Was ist passiert? - Bernhard und der Kahle Otto sind verschwunden? Das ist ja allerhand. - Wie bitte? Nächtlicher Überfall? Alle schlafen? Auch die Schäferhunde? - Aha. Ein chemischer Großangriff. Keine Spuren? - Seien Sie ohne Sorge. Ich lasse den Jungen nicht aus dem Auge. Wie? - Sicher. Es muss eine ganze Bande gewesen sein. Haben Sie schon in Tempelhof angerufen? Der Flugplatz ist das Wichtigste. Erkundigen Sie sich nach Chartermaschinen! - Richtig. - Rufen Sie uns wieder an? Schön. Und herzlichen Dank.«

Als ihm der Jokus alles berichtet hatte, meinte Mäxchen: »Da steckt Senor Lopez dahinter oder ich fresse einen Besen.«

»Hoffentlich gibt’s so kleine Besen«, sagte der Jokus. »Und nun putze dir die Marmelade aus dem Gesicht.«

Mäxchen putzte. Dann fragte er: »Glaubst du, dass man mich diesmal wieder klauen wollte?«

Der Jokus schüttelte den Kopf. »Nein. Die Bande ist sicher längst über alle Berge. Es war ein Rückzugsgefecht.«

»Und warum hat dieser Lopez den Bernhard und den Kahlen Otto aus dem Gefängnis herausholen lassen? Das war doch sehr gefährlich und sehr teuer. Oder?«

»Geld spielt für den Mann überhaupt keine Rolle«, sagte der Jokus und trank den letzten Schluck Kaffee. »Und was war für ihn gefährlicher? Dass er die zwei Halunken rauben ließ oder dass es

zu einem Prozess gekommen wäre? Wer weiß, was sie alles verraten hätten, nur um nicht allzu lange eingesperrt zu werden.«

»Verstehe«, meinte Mäxchen. »So wird es sein. Und ich bin froh, dass ich den Besen nicht zu fressen brauche.«

Der erste Tiefschläfer, der aufwachte, war der Europasieger Pluto. Er riss das Maul auf, aber nur um zu gähnen. Schäferhunde mögen zwar klug sein, doch vom Reden halten sie nicht viel.

Der nächste Schläfer, der sich zu Wort meldete, war Hauptwachtmeister Mühlenschulte. Er schlug plötzlich die Augen auf, sah sich um und sagte: »Nanu.« Viel war das nicht. Aber der Polizeipräsident ließ ihm einen Liter schwarzen Kaffee einflößen. Das half.