Am Abend saß er mit Mister Drinkwater im Hotel Hilton in der Bar. Der Amerikaner ließ sich alles, was mit dem >Unternehmen Dornröschen< den dürftigen Auskünften der Interpol und dem geschenkten Klavier zusammenhing, noch einmal haarklein erzählen. »Und wie soll ich Ihnen helfen?«, fragte er.
»Ich muss diesen Lopez finden«, erklärte Steinbeiß. »Er hat mich für dumm verkauft. Das lasse ich mir nicht bieten. Heute lacht die Welt über mich. Ich will, dass sie möglichst bald über ihn lacht.«
»Das verstehe ich«, sagte Drinkwater. »Sie wollen also nach Südamerika fliegen.«
»Jawohl.«
»Und sich dort mit der Polizei verbünden.«
»Nein. Wer so reich wie Lopez ist, hat auch bei der Polizei Freunde. Man würde ihn warnen, und ich wäre wieder der Lackierte.«
»Wer soll Ihnen denn sonst helfen?«
»Sie.«
»Ich?«
»Hören Sie zu«, bat der Kommissar. »Sie schicken eine Filmexpedition in die Gegend, wo wir den Senor Lopez vermuten. Dass ein paar Detektive aus New York und Kriminalkommissar Steinbeiß aus Berlin dabei sind, fällt nicht auf. Wir betätigen uns als Mitglieder der Expedition. Als Lastwagenfahrer, als Essenholer, als Zeltbauer, mein Freund MacKintosh aus New York als Dolmetscher. Er kennt Südamerika wie seine Westentasche und ist einer der gescheitesten Detektive unter der Sonne. Die Expedition dreht angeblich einen Kulturfilm über Land und Leute, Sitten und Gebräuche, Schulwesen, seltene Pflanzen und exotische Schmetterlinge ...«
»Ein grässliches Zeug«, sagte Drinkwater und schüttelte sich. »Aber ich verstehe, was Sie im Sinn haben.«
»Wir kurbeln ein paar Kakteen und Papageien und horchen dabei die Leute aus. Dass dieser Lopez keine Feinde hat, ist vollkommen ausgeschlossen. Wir werden seine seltsame Burg finden .«
»So eine Expedition ist ein teurer Spaß. Sie kann schief gehen.
Aber wenn wir auch nur hundert Meter Zelluloid in den Kasten kriegen, die wir gebrauchen können, finanziere ich die Sache.«
»Ich kann nichts versprechen«, sagte der Kriminalkommissar. »Ich habe etwas Geld auf der Bank und eine Lebensversicherung, die man beleihen kann.«
»Entweder mache ich so etwas überhaupt nicht«, antwortete Drinkwater trocken, »oder ich übernehme das gesamte Risiko, und das werde ich tun. Wann fliegen Sie?«
»Übermorgen.«
»Gut. Sie kabeln Ihrem Freund MacKintosh. Und ich informiere mein Büro in New York. Die Filmexpedition wird zusammengestellt werden. Alles Nähere erzähle ich Ihnen morgen. Wie geht’s Ihrer Frau?«
»Sie zieht zu ihrer Schwester«, sagte der Kommissar. »Denn zu Hause traut sie sich nicht mehr vor die Tür. Man lacht uns aus. Wir sind Witzblattfiguren geworden. Heute früh stand, mit Kreide hingeschmiert, an der Hauswand: >Klavierunterricht erteilen ab heute vierhändig Kriminalkommissar a. D. Steinbeiß und Gemahlin / Anmeldungen im 3. Stock.< Wir haben die Klingel abgestellt und das Telefon auf Kundendienst schalten lassen. Es war nicht mehr zum Aushalten.«
»Dieser Lopez ist ein Erzgauner«, sagte Mister Drinkwater. »Aber wer sind seine hiesigen Hintermänner? Wer hat das Klavier bezahlt? Wer hat den Krankenwagen bestellt? Und wer die zehn Kisten mit dem blöden Essig?«
»Die Polizei weiß es nicht. Lauter falsche Namen und Adressen. Nur die Geldscheine waren echt.«
»Wer hat das Charterflugzeug gemietet? Wer war der Reiseleiter? Wer war der Pilot? Wie wurde das >Unternehmen Dornrö-schen< im Einzelnen durchgeführt? Wo ist das Flugzeug von Tempelhof aus mit diesem Kahlen Otto und dem Bernhard hingeflogen?«
»Die Polizei weiß es nicht. In Paris wissen sie so wenig wie wir. Unser Laboratorium hat die Zusammensetzung des Sprüh-stoffs analysiert, mit dem das Gefängnis eingeschläfert wurde. Doch das hilft uns keinen Schritt weiter. Was nützt uns eine chemische Formel?«
Mister Drinkwater erhob sich energisch. »Auf in den Kampf!«, sagte er. »Packen Sie Ihre Koffer!«
Am übernächsten Tag flog Kommissar Steinbeiß nach New York, und wir werden längere Zeit nichts von ihm hören.
Mister Drinkwater saß häufig im Zirkus Stilke und machte sich Notizen. Noch öfter kam er zu Mäxchen, dem Jokus und Rosa Marzipan ins Hotel. Manchmal war auch der Schüler Jakob Hurtig dabei. Und meist sprachen sie von dem Film, den sie im Oktober und November in München drehen wollten. Jakob wusste schon, dass er ein paar Wochen schulfrei bekäme, um mitspielen zu können. »Ich freue mir noch ein mittelgroßes Loch in den Kopf«, sagte er. »Das wird der Film des Jahrhunderts. Warum ist denn noch nicht Oktober?«
»Weil du noch vor einigen Tagen Kirschkerne auf die Straße gespuckt hast«, sagte Mäxchen. »Bring bloß nicht den Kalender durcheinander!«
Diese Bitte war nur zu berechtigt. München war noch nicht an der Reihe. Im August gastierte der >Zirkus Stilke< in der Kelvin Hall in Glasgow, droben in Schottland. Im September trat man in London auf. In der Olympia Hall. Der Erfolg war, wie sogar die >Ti-mes< schrieb, ohne Beispiel. >Maxie ist das Wunder Nummer eins< hieß es.
Und erst am vorletzten Septembertag war es dann so weit. Wieder wurden die Menschen und die Tiere verladen. Wieder ratterte ein Güterzug mit den Käfigen und Wohnwagen durch die Nacht. Wieder überquerte man, diesmal zwischen Harwich und Hoek, auf einem Frachtboot den Kanal. Wieder wurden eine Giraffe, der Kunstreiter Galoppinski und der Löwe Ali seekrank. Wieder ratterte der Zug durch Holland. Diesmal hieß das Zieclass="underline" München. Und damit beginnt ...
Das fünfte Kapitel
Pressekonferenz in München / Das Dorf auf Rädern / Mäxchen >frisiert< eine Reporterin /Der Kunstreiter Galoppinski muss sein Pferd um Erlaubnis fragen / Fünf Portionen Karamellpudding sind zu viel / Wie wär ’s mit einem Ausflug nach Pichelstein?
So ein Zirkus ist, wie gesagt, keine Kleinigkeit. Und der Zirkusdirektor hat nichts zu lachen. Er ließe sich am ehesten mit einem Bürgermeister vergleichen. Mit dem Unterschied, dass in anderen Städten und Dörfern, außer braven Haustieren, nur Menschen leben und auf gar keinen Fall Löwen, Tiger, Elefanten, Bären, Affen und Seehunde.
Und ein zweiter wichtiger Unterschied kommt hinzu: Der Zirkus ist ein Dorf, das reist. Jeden Monat oder jeden zweiten Monat wohnt man woanders. Man bricht das Dorf kurzerhand und über Nacht ab. Und schon am nächsten, spätestens am übernächsten Tage steht das gleiche Dorf, als sei nichts gewesen, am Rand einer anderen Großstadt und in einem anderen Land mit einer anderen Sprache. Und am selben Abend findet die erste Galavorstellung statt. Es grenzt an Hexerei.
Doch es wird nicht gehext. Es wird gearbeitet. Jeder Handgriff sitzt. Jeder Mann funktioniert wie ein Rädchen im Uhrwerk. Der Verlademeister, der Menageriechef, der Zeltmeister, der Wagenparkchef und der Chef-Elektriker sind die größeren Rädchen. Und wer hat die ganze Uhr im Kopf und unterm Zylinder? Der Herr Direktor. Der Bürgermeister des Dorfs auf Rädern. Dazu braucht man Nerven wie Stricke. Oder, wie Direktor Brausewetter, viele graue und schwarze Handschuhe.
Auch die Reise von London nach München hatte wie am Schnürchen geklappt. Als Brausewetter nachmittags die Münchner Presseleute im Zirkus Krone empfing, trug er blütenweiße Handschuhe, und seine Schnurrbartspitzen standen auf Schönwetter.
Er gab einen kurzen Überblick: »Meine Damen und Herren«, sagte er, »wir sind ein reisendes Dorf. 150 Angestellte und Artisten leben mit ihren Familien in Wohnwagen. Sie kochen und verpflegen sich selbst.«
»Nanu«, rief ein Fräulein mit Notizblock und Hornbrille. »Sie kochen sich sogar selber? Schmeckt das denn?«
Direktor Brausewetter drohte ihr mit seinem weiß behandschuhten Zeigefinger. »Legen Sie mich nicht auf die Goldwaage, junge Dame! Ich will ein paar Zahlen nennen, nichts weiter. Also: Allein für unsere 300 Tiere kaufen wir täglich 150 kg Fleisch, 20 kg Brot, 100 kg Gemüse und Früchte, 25 Liter Milch, 12 Kubikmeter Sägemehl und 6 Kubikmeter Erde. Für den Fahrzeugpark brauchen wir pro Tag 400 Liter Treibstoff. Für Lichtmaschine und Heizung 500 Liter Heizöl.«