»Sei nicht so frech«, sagte Rosa, »sonst löse ich unsere Verlobung auf.«
Doch dann schwiegen sie und blickten gespannt nach rechts. Denn durch die herbstlichen Stoppelfelder rumpelte ein winziger Leiterwagen, den ein Pony zog. Der Wagen war nicht größer als ein Handkarren, und der Bauer sah aus wie ein Junge im ersten Schuljahr. Aber er war ein grauhaariger Mann. Er winkte dem Auto, als er aus dem Feldweg in die Landstraße einbog.
»Es sieht aus wie eine Kinderkutsche im Zoo«, meinte Mister Drinkwater.
»So groß wie der alte Bauer war dein Vater«, sagte der Jokus zu Mäxchen, der hinter dem kleinen Wagen dreinblickte.
Der Junge saß auf der Schulter des Professors, blickte auf die vielen kleinen Rechtecke der Wiesen und der umgepflügten Felder rechts und links und schwieg.
»Ob die Kartoffeln hier so groß sind wie bei uns?«, fragte der Chauffeur. »Dann haben sie’s verdammt schwer mit der Ernte.«
Mäxchen sagte: »Nun werden also zwei aus dem Dorf beim Filmen tun, als wären sie meine Eltern.«
Der Empfang fand am Parkplatz statt, nachdem die Gäste aus dem Auto gestiegen waren. Die Feuerwehrkapelle, lauter kleine Männer mit kleinen Instrumenten, spielte den Pichelsteiner Marsch. Der Jubel der Einwohner, so klein sie waren, war riesengroß. Alois Pichelsteiner, der Bürgermeister, hielt eine gewaltige Rede. Ferdinand Pichelsteiner, der Vorsitzende des Turnvereins, begrüßte Mäxchen als Ehrenmitglied. Mister Drinkwater überreichte dem Bürgermeister, als Dank für die Mitwirkung der Gemeinde am Film, einen Scheck auf die Deutsche Bank. Und Ferdinand Pichelsteiner kündigte Mäxchen ein Geschenk an, das ihn immer an den Turnverein Pichelstein 1872 erinnern möge.
»Wir sind eine Turngemeinde seit fast hundert Jahren«, rief er.
»Deine lieben Eltern waren bei uns Vorturner. Sie trugen unseren Ruf in die Welt hinaus. Du, verehrtes Ehrenmitglied, hast ihre Talente geerbt und gemehrt. Was könnten wir dir Besseres und Schöneres schenken als - ein Turngerät? Der Schlossermeister Fidelis Pichelsteiner und meine Wenigkeit haben dir aus feinstem Stahl ein Hochreck gebaut, deiner Größe angemessen, mit vierfach verstellbarer Reckstange. Dazu gehört ein weicher Filzteppich, zehn Zentimeter im Quadrat, damit du dir, wenn du die Schwungkippe und die Riesenwelle und den Absprung in der Grätsche übst, nicht die Knöchelchen brichst. Deine Eltern waren Turner, ehe sie Artisten wurden. Du bist ein Artist, nun werde ein Turner, wie es sich für einen Pichelsteiner von echtem Schrot und Korn ziemt!«
Die Feuerwehrkapelle spielte einen Tusch. Die Pichelsteiner brüllten »Bravo«. Und schon kam ein Eselgespann um die Ecke getrabt. In dem Wagen stand ein kleiner Tisch und auf dem Tisch hatte man das winzige Hochreck montiert. Alles staunte. Alle klatschten.
Mäxchen beugte sich weit aus der Brusttasche des Professors und rief: »Liebe Namensvettern, liebe Freunde meiner Eltern! Wir danken euch für den festlichen Empfang, und ich danke euch für das wundervolle Geschenk. Ich werde euer Hochreck stets hoch in Ehren halten. Doch zunächst einmal muss ich probieren, ob die Maße stimmen. Artisten sind gründlich.« Und ehe man sich’s versah, hing der kleine Mann längelang an der Reckstange.
Der Esel stellte die Löffel hoch. Ihm war ungemütlich zumute, weil er nicht sehen konnte, was hinter ihm vorging. Aber er hielt still wie ein Denkmal, das die Ohren spitzt.
Mäxchen hing also eine Weile regungslos am Reck. Dann hob er langsam die Beine bis zur Waagrechten, brachte die Füße aus der Vorhebhalte, bei durchgedrückten Knien, bis an die Reckstange, schob die Beine senkrecht höher, schwang nach vorn weit aus, schwang zurück, machte die Schwungstemme und eine Bauchwelle vorwärts und pausierte kurz, auf die Stange gestützt, um mit den Fingern nachzugreifen. »Das ist lustig«, sagte er zum Jokus, der erschrocken neben dem Karren niedergekniet war.
»Du bist ja total übergeschnappt«, meinte der Jokus. »Mach, dass du herunterkommst!«
»Nur noch ein paar Sekunden. Es gefällt mir so. Streck, bitte, die Hand aus.« Und ehe ihn der Jokus vom Reck pflücken konnte, schwang Mäxchen erneut durch die Luft. Hoch, höher, am höchsten. Die Arme und Beine gestreckt. Und plötzlich wurde eine Riesenwelle daraus, dann die zweite und dritte. Wie ein Sekundenzeiger rotierte er ums Reck. Dann hielt er im Handstand auf der vibrierenden Stange inne, rief »Juhu!« und sprang, mit gegrätschten Beinen, übers Reck und mitten in die ausgestreckte Hand, die ihm der Jokus entgegenhielt. Er brachte sogar die abschließende Kniebeuge fehlerlos zustande.
»Der Junge zehrt an meinen Nerven«, erklärte Rosa Marzipan aufgeregt. Doch das hörte niemand, weil sämtliche Pichelsteiner klatschten. Ferdinand Pichelsteiner drängte sich nach vorn und fragte: »Wo hat er das gelernt?«
»Nirgendwo«, antwortete der Jokus, der den kleinen Mann in die Brusttasche stopfte.
»Seine Eltern konnten’s natürlich«, sagte Ferdinand Pichelsteiner. »Aber seit wann ist die Riesenwelle erblich?«
Mäxchen kicherte. »Ich habe beim Fernsehen zugeschaut. Bei den Weltmeisterschaften. Die russischen und die japanischen Geräteturner sind fabelhaft.«
»Die Grätsche am Hochreck lernt man nicht durchs Fernsehen«, stellte Turnvater Ferdinand fest.
»Ich schon«, behauptete Mäxchen. »Ich bin Artist.«
»Das weiß ich«, sagte Ferdinand Pichelsteiner. »Das weiß ich ja, mein Junge. Du bist sogar ein weltberühmter Artist. Aber das Turnen musst du gelernt haben. Eine andere Erklärung gibt’s nicht. Du hast die Riesenwelle gewissermaßen im Blut.«
Es wurde ein interessanter Tag. Und es war ein anstrengender Tag. Die Straßen waren zu schmal. Die Häuser waren zu niedrig. Mister Drinkwater musste sich manchmal an den Dachrinnen festhalten und konnte in die Stockwerke hineinschauen. Die Kameraleute hatten mit ihren Apparaten in der Turnhalle keinen Platz. Sie mussten das Schauturnen der Männer- und der Frauenriege von draußen drehen. Durch das Fenster am Niedermarkt. Dort, auf dem Niedermarkt, wurde den Gästen auch das Mittagessen serviert. Es gab Pichelsteiner Fleisch. Das ist ja klar. Alles andere war weniger klar. Die Stühle waren für die Gäste zu niedrig und zerbrechlich, die Teller und die Löffel waren zu klein. Man musste sich statt auf Stühle notgedrungen auf Tische setzen und die Mahlzeit mit Suppenkellen aus Töpfen löffeln. So ging es einigermaßen.
Am Nachmittag wurde weitergefilmt. Und weil die Sonne schien, entschloss sich Mister Drinkwater, ein paar wichtige Straßenszenen zu drehen. Nachdem er mit dem Kameramann alles Nötige besprochen hatte, nahm er Rosa Marzipan beiseite und sagte leise: »Machen Sie mit dem Jokus und dem Jungen einen längeren Spaziergang.«
»Warum denn?«, fragte Rosa. »Wir wollen doch bei den Aufnahmen zusehen.«
»Wandern Sie lieber«, bat Drinkwater. »Denn ich drehe nachher, wie sich Mäxchens Eltern auf der Straße von den Nachbarn verabschieden und das Dorf verlassen, um in der Welt ihr Glück zu versuchen.«
»Ich verstehe.«
»Das junge Mädchen und der junge Mann, die wir für die zwei Rollen ausgewählt haben, sehen Mäxchens Eltern sehr ähnlich. Und der Maskenbildner hat das Pärchen nach alten Fotografien so echt hergerichtet, dass Mäxchen erschrecken könnte. Der Junge war ja, als er die Eltern verlor, immerhin sechs Jahre alt, und die Fotografien kennt er auch ...«
»Hänschenklein«, sagte Rosa Marzipan, »Sie sind noch viel netter, als ich bis vor einer Minute dachte.«
»Ich hätte es lieber dem Jokus selber erzählt. Nur, Mäxchen hockt bei ihm in der Brusttasche und .«
»Keine Sorge. Ich werde mit meinem Bräutigam wandern, bis er auf Pichelsteins Feldern zusammenbricht.«
Doch das war leichter gesagt als getan. Eine Zeit lang ließen sich der Professor und Mäxchen das Wandern gefallen. Dann wurden sie aufsässig. Sie begannen zu murren.
Und so bedeutungsvoll das Marzipanmädchen dem Jokus zuzwinkerte - er verstand heute Rosas Augensprache nicht. Sie erreichte nur, dass der Junge misstrauisch wurde. »Warum klappert dein Fräulein Braut in einem fort mit den Augendeckeln?«, fragte er neugierig.