»Aus dem Fenster gucken kann jeder.«
»Die Kunst besteht darin, im richtigen Augenblick hinauszugucken!«
»Da bin ich also ein Künstler«, sagte er und schnitt eine Grimasse. »Auch das noch! Wenn Sie meine Zensuren in Singen und Zeichnen gesehen hätten, würden Sie das stark bezweifeln. So, und nun geh ich.« Er stand auf. »Morgen schreib ich Mäxchen, dass Sie losgelegt haben.«
»Wo steckt er denn zur Zeit?«
»Sie gastieren in Kopenhagen. Diesmal im Zirkus Schumann. Natürlich mit Riesenerfolg. Und er bliebe gerne länger. Weil es ja dort das >Tivoli< gibt. >Der schönste Rummelplatz auf der Welt<, schreibt er. Und es gäbe in der Stadt Tausende von Läden mit
Schokolade und Bonbons und vor allem mit zehn Sorten Lakritze. Und diese Läden hätten viel länger auf als anderswo. Mögen Sie Lakritze?«
»Sehr.«
»Ich nicht.«
»Du schwärmst mehr für Ananastörtchen.«
Er verzog das Gesicht. »Sie sind ein Spaßvogel, Herr Dichterfürst. Na ja, und sie wohnen alle in einem Hotel am Meer, das dort >Öresund< heißt. Und auch da gibt’s einen berühmten Rummelplatz. Den ältesten überhaupt. Er ist fast hundertfünfzig Jahre alt und heißt >Bakken<. Und gegenüber einen Riesenpark mit fünftausend Rehen und Hirschen und mit Eichen, die sechshundert Jahre alt sind. Eine soll sogar achthundert Jahre alt sein. Und Hünengräber aus der Wikingerzeit liegen nur so herum. Und Pferdedroschken für Spazierfahrten kann man mieten, als wären’s Taxis. Und die Rehe haben überhaupt keine Angst, sondern wedeln höchstens mit den Ohren, wenn man vorbeifährt. Aber Direktor Brausewetter kann das Engagement nicht verlängern, weil sie im nächsten Monat in Oslo auftreten müssen. Na, Oslo ist sicher auch sehr schön.«
»Vermutlich«, sagte ich. »Und wo liegt inzwischen Mama Marzipan mit dem namenlosen Baby?«
»Mama Marzipan und das Baby sind doch auch in Kopenhagen! Vielleicht bleiben sie vierzehn Tage länger und fliegen erst dann nach Oslo. Vorsichtshalber und nur so. Denn es fehlt ihnen wirklich rein gar nichts. Bis .« Er biss sich auf die Unterlippe. »Bis auf den Vornamen.«
Er stand schon halb auf der Treppe, als ihm noch etwas einfiel. »Was ist denn nun mit den Kindern, die den ersten Band vom kleinen Mann nicht gelesen haben?«, fragte er. »Ich meine die Kinder, die zuerst den zweiten Band geschenkt kriegen! Das ist doch glatt möglich, oder?«
»Jawohl. Damit muss man rechnen.«
»Na und?« Jakob wurde eifrig. »Wenn die lieben Kleinen das erste Kapitel vom zweiten Band lesen, das Sie mir vorhin gegeben haben, und wenn sie den ersten Band noch nicht kennen, dann verstehen sie ja überhaupt nicht, was eigentlich los ist! Sie wissen nicht, dass Mäxchen gekidnappt und befreit wurde und wie aufgeregt die ganze Stadt war. Und von Bernhard und dem Kahlen Otto und dem Senor Lopez haben die armen Würmer keine blasse Ahnung. Womöglich wissen sie nicht einmal, dass Mäx-chen nur fünf Zentimeter groß ist und .«
»Hör auf!«, bat ich. Mir war der Schreck so in die Glieder gefahren, dass ich mich an der offenen Wohnungstür festhalten musste.
Aber er hörte nicht auf. »Na ja, vielleicht verkaufen die Buchhändler den zweiten Band nur für Kinder, die den ersten Band schon gelesen haben.«
»Dummes Zeug«, knurrte ich. »Woher sollen das denn die Buchhändler wissen? Und wer soll es ihnen denn erzählen? Tante Frieda, die nur alle Jubeljahre einen Buchladen betritt? Oder Onkel Theodor, der ein Buch bloß kauft, weil es billiger ist als eine Dampfmaschine?«
»Das sieht ja düster aus«, meinte Jakob und setzte sich auf die Treppe. Ich setzte mich neben ihn und murmelte: »Sehr düster, junger Freund.«
Nach einer Weile sagte er: »Ich weiß was! Sie müssen den zweiten Band damit beginnen, dass Sie zunächst den Inhalt des ersten Bandes erzählen. Ist das eine gute Idee?« Er strahlte, als habe er soeben Amerika entdeckt.
Ich winkte betrübt ab. »Dafür brauche ich mindestens dreißig, vielleicht sogar vierzig Buchseiten! Und was, glaubst du wohl, würden dann die anderen Kinder sagen, die den ersten Band schon kennen?«
»Sie würden fluchen.«
»Ganz richtig.«
»Sie würden ganz richtig fluchen. >Diesen Herrn Kästner sollte dreimal die Erde verschlingen! < könnten sie beispielsweise fluchen, oder >Man müsste ihm mit dem Tomahawk den Scheitel nachziehen!< oder >Auf, Kameraden, wir wollen ihm Reißzwecken ins Bier träufeln!< oder >Cassius Clay möge ihn aufdünsten!< oder .«
»Sei nicht so blutrünstig, Jakob! Hilf mir lieber aus der Patsche!« Aber ihm fiel nichts Gescheites ein. Mir fiel nichts Gescheites ein. Und so säßen wir womöglich noch heute auf der Treppe, wenn nicht plötzlich ein Windstoß durchs Haus gefegt wäre und mit lautem Knall die Wohnungstür zugeschlagen hätte. Und mein Schlüsselbund lag drin auf dem Schreibtisch!
»Künstlerpech«, meinte Jakob. »Dichterfürst hat Künstlerpech. Wo wohnt der nächste Schlosser?« Ein Glück, dass ich’s wusste. Der Junge versprach mir, auf dem Nachhauseweg dem Handwerker Bescheid zu sagen, verabschiedete sich und sauste wie ein geölter Blitz davon.
Der Schlosser war weniger gut geölt, und ein Blitz war er auch nicht gerade. Er kam, als es im Treppenhaus längst dämmerte. Und vielleicht lag es an der Dämmerung, dass mir, während ich auf den Stufen hockte, der rettende Einfall durch den Kopf schoss. (Wenn das stimmen sollte, werde ich mich künftig ziemlich oft bei Dämmerung ohne Schlüssel auf die Treppe setzen.)
Jedenfalls, als der Schlosser die Tür aufgesperrt hatte, gab ich ihm vor Freude zwei Mark zu viel, bedankte mich, weil er so spät gekommen war, und schrieb einen Brief an Herrn Lemke, der den ersten Band vom kleinen Mann illustriert hat. Ich schrieb:
»Machen Sie doch, bitte, für den Anfang des zweiten Bandes zehn Zeichnungen über den ersten Band! Dann wissen die Kinder, die ihn nicht kennen, was darin passiert ist. Und die anderen Kinder, die ihn schon kennen, werden trotzdem ihren Spaß haben, weil für sie die zehn Zeichnungen neu sind. Übrigens, sollten Sie beim Nachdenken Schwierigkeiten haben, machen Sie’s wie ich: Setzen Sie sich in der Dämmerung auf die Treppe!«
Ein paar Tage später kam die Antwort. »Ich habe«, schrieb Herr Lemke, »Ihren Rat befolgt und mich in der Dämmerung auf die Treppe gesetzt. Ihr guter Rat war leider teuer, denn die Treppe war frisch gestrichen, und das merkte ich erst, als jemand die Hausbeleuchtung anknipste. Graue Hosen mit rotem Hosenboden sehen grässlich aus. Die zehn Zeichnungen schicke ich trotzdem. Mit den besten Grüßen von Treppe zu Treppe
Ihr Horst Lemke.«
Er schickte die Zeichnungen. Ich machte die Unterschriften. Und nun hoffen er und ich, dass den Nochnichtkennern des ersten Bandes die nächsten Seiten von Nutzen sein und, wie das ganze Buch, allen Lesern Spaß machen werden.
Das sind die zwei kleinsten Mitglieder der chinesischen Akrobatentruppe >Familie Bambus< vom Zirkus >Stilke<. Sie heißt Tschin Tschin und er Wu Fu. Beide sind etwa fünfzig Zentimeter groß und miteinander verheiratet. Aber eigentlich heißen sie Pichelsteiner, stammen aus Pichelstein im Böhmerwald und sind gar keine Chinesen. Das böhmische Dorf Pichelstein ist aus drei Gründen berühmt: Alle Einwohner sind von winzigem Wuchs. Alle heißen Pichelsteiner. Und alle sind hervorragende Geräteturner.
Das ist Tschin Tschins und Wu Fus Sohn. Er heißt Mäxchen Pichelsteiner, wird der kleine Mann genannt und schläft, weil er nur fünf Zentimeter misst, in einer Streichholzschachtel. Mit sechs Jahren verliert er seine Eltern. Sie werden während eines Sturms vom Eiffelturm geweht. Zwei Wochen später fischt ein portugiesischer Dampfer ihre beiden schwarzen Chinesenzöpfe aus dem Atlantischen Ozean. Die Zöpfe werden in einem Elfenbeinkästchen von den Zirkusleuten feierlich begraben. Und Mäxchen ist sehr, sehr unglücklich.