Die Kinder waren allesamt begeistert und schwärmten bis zum Schlafengehen vom kleinen Mann. Auch die Erwachsenen sprachen noch stundenlang darüber und meinten, wenn sie das Kerlchen nicht selbst gesehen hätten, könnten sie kaum glauben, dass es so etwas überhaupt gäbe.
Inzwischen saßen die Hauptdarsteller im Wohnzimmer ihrer stillen Villa und blickten nachdenklich vor sich hin. »Ich finde, wir waren ziemlich gut«, sagte der Jokus, »aber ganz genau weiß ich’s nicht.«
»Mein Absprung zum doppelten Salto war miserabel«, erklärte Rosa Marzipan zerknirscht. »Ich sah aus wie ein lahmer Schimmel.« Dann klingelte das Telefon und der erste Gratulant meldete sich. Es war der Schüler Jakob Hurtig aus Berlin, und er schwor bei seinem Schulranzen, dass er, seine Eltern, die Verwandten, die Nachbarn und die gesamte Kickelhahnstraße so etwas Fabelhaftes noch nie vorher gesehen hätten. »Sie sind ganz weg«, rief er aus der Ferne, »und ich bin auch gleich weg, sonst wird das Gespräch zu teuer.« Weg war er.
»Schade«, sagte Mäxchen. »Ich wollte ihm gerade von meinem kleinen Haus erzählen. Wisst ihr schon, wie ich es nennen werde? >Villa Glühwürmchen<! Gefällt euch das?«
Während es ihnen noch gefiel, klingelte das Telefon von neuem. Diesmal meldete sich der Bürgermeister aus dem völlig verschneiten Dorf Pichelstein. Sie seien hell begeistert und fühlten sich kolossal geehrt, weil ihr Dorf ja nun weltberühmt geworden sei, was sich auch auf den Fremdenverkehr vorteilhaft auswirken werde.
Das nächste Ferngespräch kam aus Breganzona. König Bileam gratulierte im Namen sämtlicher Schlossbewohner. Es sei großartig gewesen, und er gäbe den Apparat an die Kinder weiter. Nun fand Mäxchen endlich Gelegenheit, die >Villa Glühwürmchen< zu beschreiben. Judith und Osram eigneten sich als Zuhörer wie niemand sonst. Denn das jetzige erste Stockwerk, die Zweizimmerwohnung mit Küche und Bad, hatten sie ihm ja seinerzeit geschenkt.
Die Anrufe rissen nicht ab. Der nächste Gratulant war Mister Drinkwater, und der Jokus rief: »Hallo, Hänschenklein. Ich denke, du schläfst?«
»Nein. Ich habe mich wecken lassen. Die Sendung war sehr gut. Ich kann mit euch und ihr könnt mit mir zufrieden sein. Und somit: Gute Nacht allerseits.«
»Wo steckst du denn?«, fragte der Jokus.
Da sagte eine fremde Stimme: »Hier spricht der Bordfunker der Jacht >Sleepwell<. Mister Drinkwater schläft bereits wieder. Wir liegen im Hafen von Alexandria vor Anker. Es war eine unvergessliche halbe Stunde. Grüßen Sie, bitte, den kleinen Mann. Ende der Durchsage.«
Der letzte Anruf an diesem denkwürdigen Tage kam aus dem Winterquartier des Zirkus Stilke. Direktor Brausewetter war, schien es, völlig aus dem Häuschen. »Dass ich euch drei jetzt nicht an meine gerührte Brust drücken kann, ist das Einzige, was mir zu meinem Glücke fehlt. Ihr wart göttlich. Ihr wart umwerfend. Ihr wart .«
Mäxchen rollte von der Hör- zur Sprechmuschel. »Direktor Brausepulver, was für Handschuhe haben Sie an?«
»Goldene«, rief der Direktor zurück. »Goldene Handschuhe, du Goldjunge! Meine Gattin legte mir ein Paar unter den Christbaum. Sie hat ein prophetisches Gemüt.«
Und wer rief am Morgen des zweiten Feiertags noch einmal und schon wieder an? Direktor Brausewetter. »Professor, sind Sie allein? Oder ist Mäxchen in der Nähe?«
»Nein, er badet zur Zeit in seinem Eigenheim. Wo brennt’s denn?«
»Ich habe vorhin ein Telegramm aus Alaska erhalten, das höchst merkwürdig klingt.«
»Aus Alaska? Liegt das nicht beim Nordpol gleich um die Ecke?«, fragte der Jokus.
»Das ist leicht möglich. Der Text des Telegramms lautet jedenfalls: >Übermittelt Professor Jokus dringende Bitte, Fairbanks 3712 anzurufen, weil lebenswichtig. Danke schön. Jane Simpson, geborene Hannchen Pichelsteiner.< Haben Sie die Nummer notiert?«
»Fairbanks 3712. Jane Simpson.«
»Geborene Pichelsteiner! Hannchen, auch das noch! Mitten in Alaska! Wo es dort angeblich nur Goldsucher, Eskimos und Hundeschlitten gibt. Meine Frau meint ...«
»Vielleicht hat Ihre Frau Recht«, sagte der Jokus, legte rasch den Hörer auf, hob ihn sofort wieder ab und meldete beim Fernamt Lugano >Fairbanks 3712< an.
»Fairbanks 3712«, wiederholte das Fräulein vom Amt, »sehr gern. Aber dort ist jetzt, glaube ich, Mitternacht oder gestern.«
»Ich bitte um ein Blitzgespräch.«
»Sehr gern, Herr Professor. Und herzlichen Dank für die schöne Fernsehsendung. Es war einmalig.«
Nach dem Essen klagte der Jokus über Kopfschmerzen, legte sich aufs Sofa, sagte, dass er Ruhe brauche, und bat die beiden, eine Spazierfahrt zu machen. Sie hatten nichts dagegen einzuwenden. Doch zuvor zwang ihn Rosa, zwei Kopfschmerztabletten zu schlucken. Das war ihm gar nicht recht, weil er ja gar keine Kopfschmerzen hatte.
Als die zwei aus dem Hause waren, setzte er sich ans Telefon und wartete. Warum er ihnen von Fairbanks 3712 kein Wort erzählt hatte, wusste er selbst nicht genau.
Inzwischen kutschierten Rosa und Mäxchen nach Carona hinüber, wo sie den alten und den kleinen Esel sowie den meckernden Ziegenbock bewunderten, die dort seit Jahren über eine bröcklige Mauer auf die Straße schauen und sich fotografieren lassen. Dann rollten sie nach Morcote hinunter und, am See entlang, nach Melide.
Hier bestaunten sie >La Suisse miniature<, eine im Freien für Kinder erbaute >Schweiz im Kleinen<: mit Bergen und Burgen, Seen und Städten, fahrenden Dampfern, Eisenbahnen und Omnibussen. Man konnte zu Fuß in einer Viertelstunde bequem durch die gesamte Schweiz spazieren. Mäxchen hockte in Rosas Manteltasche und sagte, als sie wieder ins Auto stiegen: »Das wäre ein Ländchen für mich! Genau meine Kragenweite!«
In Lugano kehrten sie im >Kursaal< ein, wo ihnen ein reizender Oberkellner heiße Schokolade und frische Ananastörtchen servierte. Als er Mäxchen sah, strahlte er. »So ein Zufall! An demselben Tisch hat seinerzeit Dottore Kästner jeden Nachmittag gesessen und an dem Buch >Der kleine Mann< geschrieben.«
»Auf welchem Stuhl?«, fragte Mäxchen.
»Auf dem Stuhl, auf dem jetzt Fräulein Marzipan sitzt.«
»Woher wissen Sie denn, wie ich heiße?«, fragte Rosa.
Mäxchen blinzelte dem Oberkellner zu. Dieser blinzelte zurück, verbeugte sich und begrüßte neue Gäste.
»Was gibt es denn da zu blinzeln?«, fragte Rosa spitz. »Woher weiß er es denn wirklich?«
»Aus dem Buch >Der kleine Mann<. Woher denn sonst?«
Rosa lachte, dass sich die Leute umdrehten. »Natürlich!«, rief sie. »Aber nun rasch in den Spielsaal! Dumme Menschen haben Glück beim Roulette.« Und tatsächlich, sie gewann in zehn Minuten dreißig Franken.
Als sie in die Villa heimkamen, wollte Rosa dem Professor noch zwei Tabletten geben. Er aber wollte nicht, sondern sagte: »Ich hatte gar keine Kopfschmerzen. Ich wollte euch nur für einige Zeit los sein.«
»Da habe ich mir ja einen feinen Mann als Bräutigam eingehandelt«, sagte Rosa Marzipan zu Mäxchen.
»Einen notariellen Lügner«, sagte Mäxchen zu Rosa.
»Einen >notorischen< Lügner«, verbesserte sie.
Der Jokus drohte ihnen. »Wenn ihr euch nicht sofort auf eure vier Buchstaben setzt .«
»Wir sind zwei Personen«, meinte Mäxchen.