Mäxchen saß gern in der Küche und schaute Mielchen zu. Manchmal las er ihr auch etwas vor. Und manchmal kochten sie, absichtlich, dummes Zeug. »Heute Mittag gibt’s >Quatsch mit Soße<«, sagten sie dann begeistert, oder >Unsinn mit rechteckigem Kartoffelsalat< oder >Veilchenpastillen mit Dill vom Grill<, und was das Tollste ist: Es schmeckte ihnen auch noch!
Einmal wollte eine Amsel unbedingt durchs offene Küchenfenster und mitessen. Das war eine Aufregung! Mäxchen schickte Mielchen zum Telefon und hielt den Vogel inzwischen mit einem Bratenmesser in Schach. Die Amsel schimpfte. Der Junge schrie: »Hau ab, oder ich mache dich zu Geflügelsalat!«
Doch das war glücklicherweise nicht nötig. Denn mitten in der Redeschlacht kam der Jokus über die Wiese gerannt, als wolle er den Weltrekord im Wiesenlauf unterbieten, und die Amsel suchte das Weite. Das Weite? Sie flog auf den nächsten Baum und schimpfte.
Es ist wirklich merkwürdig: Wenn Amseln singen, singen sie so süß wie Nachtigallen. Womöglich noch süßer und einfallsreicher. Doch wenn sie schimpfen, dann schimpfen und zetern sie wie Autofahrer bei Blechschaden.
Als die Zankamsel endlich davongeflogen war, bückte sich der Jokus und fragte: »Was gibt’s denn zu Mittag?«
»Gänseleber vom Huhn mit Meerrettich und noch mehr Meerrettich«, meldete Mielchen. »Wollen Sie mal kosten?« Sie hielt ihm einen Löffel voll durchs Fenster.
Er kostete, musste husten und meinte: »Eine scharfe Sache.«
»Aber gesund«, sagte Mielchen. »Meerrettich reinigt die Luftwege.«
»Und noch mehr Meerrettich reinigt die Luftwege noch mehr«, erklärte Mäxchen. »Außerdem ist es ein lustiges Essen, weil man dabei weint.«
»Ihr solltet eure Rezepte aufschreiben und ein >Kochbuch für Kinder< herausgeben«, meinte Jokus. »Das würde Aufsehen erregen.«
»Lieber nicht«, sagte Mielchen. »Sonst kämen alle Eltern angerückt und zögen uns die Hosen straff.«
Mäxchen war trotzdem für das Kochbuch. »Dabei lernst du Lesen und Schreiben, und Spaß haben wir außerdem. Über unsere Rezepte wird man ziemlich staunen.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte der Jokus. »Und nun wünsche ich euch guten Appetit. Bei uns drüben gibt’s Sahnegulasch mit Semmelknödeln. Wenn’s dunkel wird, hole ich euch ab. Auf Wiedersehen.«
Als er über die Wiese stelzte, tat ihm das Kreuz weh. Das kommt davon, wenn man sich so lange und so tief bückt, um fremde Küchen zu bewundern.
Nach dem ebenso lustigen wie tränenreichen Menü mit Meerrettich und noch mehr Meerrettich setzten sich die kleine Miss und der kleine Mann in die Bibliothek und tranken aus ihren klitzekleinen Porzellantassen Schokolade. Dazu gab es Mandelsplitter und gehackte Rosinen. »Es war mir ein Festessen«, sagte Mäx-chen. »Du bist die geborene Hausfrau. Aber nun erkläre mir einmal, wieso du nicht lesen und schreiben kannst.«
»Wer hätte mir’s denn beibringen sollen?«
»Deine Mutter.«
»Aber Mäxchen, sie stand doch von früh bis spät im Laden, und abends war sie todmüde.«
»Gab es denn sonst niemanden? Keinen Lehrer? Keine Kindergärtnerin? Keinen Jungen aus der Nachbarschaft, der in eine richtige Schule ging? Wo du doch ein so niedliches Mädchen bist? Kannst du mir das erklären?«
Mielchen sah ihm fest in die Augen und nickte. »Ich kann dir’s erklären. Aber nur, wenn du mir schwörst, es keinem Menschen weiterzusagen.«
»Ich schwöre es. Bei Jakob Hurtigs Schulranzen. Er ist mein Freund und noch toller schwören kann ich nicht.«
»In Fairbanks wusste doch überhaupt niemand, dass es mich gab«, flüsterte Mielchen geheimnisvoll. »Ich habe nicht einmal einen Geburtsschein.«
Er saß und staunte.
»Als ich zur Welt gekommen war und mein Vater sah, wie klein ich war, lief er doch fort. Ich weiß nicht, wo er ist und ob er noch lebt, und ich will’s auch gar nicht wissen. Ein paar Wochen später fuhr Mutti nach Fairbanks und mietete von ihrem letzten Geld ein Kolonialwarengeschäft. Dazu gehörte eine Ladenstube. Und dort hat sie mich versteckt, bis wir hierher gekommen sind.«
Da nahm Mäxchen seine Porzellantasse und schmetterte sie an die Wand. »Neun Jahre in der Ladenstube?«, schrie er. »Das war gemein! Das durfte sie nicht! Niemals!«
Mielchen kniete am Boden, sammelte die Scherben und sagte: »Schade um die schöne Tasse.«
»Ach was!«, rief Mäxchen wütend. »Um die neun Jahre ist es schade!« Doch wie er die kleine Miss auf dem Teppich zwischen den Scherben hocken sah, sprang er vom Stuhl, schlang den Arm um sie und drückte sie fest an sich. So saßen sie eine ganze Weile. Mielchen weinte, und diesmal lag es nicht am Meerrettich. Der Junge wischte ihr die Tränen von den Backen, betrachtete seine Hände und sagte: »Ausgerechnet heute habe ich dreckige Finger.«
»Das macht nichts«, meinte sie und lächelte schon wieder ein bisschen.
Ich weiß ja nicht, wie ihr darüber denkt. Mäxchens erste Wut war begreiflich, und diese erste Wut war nicht seine letzte. Wochenlang konnte er Mielchens Mutter vor lauter Zorn nicht in die Augen sehen. Und sagen durfte er nichts. Er hatte bei Jakob Hurtigs Schulranzen geschworen, das wollen wir nicht vergessen. Andrerseits ...
Immer gibt es dieses ruhelose Einerseits und Andrerseits. Es plagt einen noch, wenn man graue Haare oder überhaupt keine Haare mehr hat. Andrerseits, meine ich, war doch Mrs. Jane Simpson nicht so schlimm wie die beiden Eltern, die, weil sie nichts zu essen hatten, Hänsel und Gretel nachts ganz einfach in den Wald schickten!
Sie hatte sich abgerackert und in ihrem armseligen Laden Konserven und Schnaps an Eskimos und Indianer, an Lachsfischer und Pelzhändler verkauft. Auch an amerikanische Flieger und Mechaniker, die in der Nähe stationiert waren und mitunter nach Fairbanks kamen, um eine Nacht durchzubummeln.
»Sperr deinen blöden Laden zu«, hatten sie gegrölt. »Mit einem Fräulein, das nur einen halben Meter groß ist, wollten wir schon lange mal tanzen gehen.« Einer hatte sogar nach der Ladenkasse gegriffen. Und wenn sie damals nicht mit dem spitzen Büchsenöffner zugeschlagen hätte ...
Doch wozu soll ich euch mit solchen abenteuerlichen Geschichten langweilen? Ich versuche ja nur, euch und mir selber zu erklären, warum Mrs. Simpson ihr Kind so lange versteckt und totgeschwiegen hatte. Es war doch das reine Wunder, dass Mielchen trotz der neun einsamen Jahre ein gesundes und normales Kind geblieben war. Hatte das die Mutter denn nicht bedacht?
Ich kann es einfach nicht glauben. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns anhören, was sie, etwa zur gleichen Zeit, im Wohnzimmer der >Villa Sorgenklein< erzählte.
Rosa Marzipan und der Jokus saßen auf dem Sofa. Mrs. Simpson saß ihnen gegenüber auf einem Sessel, ließ den Kopf hängen und wirkte wie ein Schulmädchen aus der vierten oder fünften Klasse. Doch wenn sie den Kopf hob, sah man ein müdes und abgehärmtes Frauengesicht.
»Alles, was ich getan habe, war falsch«, erklärte sie. »Ich wollte einen großen Mann und große Kinder haben. Ist das eine Sünde? Sind es zwei Sünden? Sind es siebenundachtzig Sünden?«
»Nein«, sagte Rosa. »Aber ...«
»Ich fand den großen Mann. Aber ich bekam ein fünf Zentimeter kleines Kind. Der Mann lief vor Schreck auf und davon. Er hielt mich für verhext. Ich hatte Angst. Angst vor mir selber, Angst vor dem Baby, Angst um das Baby, Angst vor der Farm mit den Blaufüchsen, Angst vor der Kälte. Und in dem Laden in Fairbanks gab es neue Angst. Wenn ich nun krank geworden wäre? Oder Emily? Und die Angst vor den betrunkenen Männern im Laden ...« Mrs. Jane Simpson, geborene Pichelsteiner, hob den Kopf und blickte das Paar auf dem Sofa traurig an. »Ich bin kein schlechter Mensch, aber ich war keine gute Mutter. Können Sie meine Tochter hier behalten?«