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»Sehr höflich war das nicht«, meinte der Jokus. »Aber im Grunde hat er natürlich Recht. Er will nicht, dass die Konkurrenz aufmerksam wird und uns mehr Geld bietet als er.«

»Was geht denn das uns an?« Der Direktor zwirbelte seine Schnurrbartspitzen hoch. »Wir sollten mit dem abschließen, der am meisten zahlt.«

Der Jokus schüttelte lächelnd den Kopf. »Wir werden mit dem besten Mann abschließen. Das ist Mister Drinkwater. Darf ich Ihr Gedächtnis auffrischen, lieber Brausewetter! Vor einiger Zeit, es ist noch gar nicht so lange her, hatte die Nummer >Der große Dieb und der kleine Mann< in der Zirkuswelt einen sensationellen Erfolg. Die Gagen, die man den zwei Artisten von anderer Seite bot, waren immens. Und? Rannten sie hinter dem Geld her?«

Direktor Brausewetter blickte gequält auf die Spitzen seiner Lackschuhe. »Nein. Aber der neue Vertrag, den Sie mit mir abschlössen, war auch nicht von Pappe.«

»Das hätte gerade noch gefehlt«, sagte der Jokus. »Meine Devise heißt: der bestmögliche Vertrag mit dem bestmöglichen

Mann. Das galt für Sie, und das gilt für Mister Drinkwater. Sind wir uns einig?«

»Zu Befehl, Herr Professor!« Brausewetter schlug die Hacken zusammen, machte kehrt und marschierte zur Tür. Dort stieß er mit Rosa Marzipan zusammen.

Sie trug Trikot und Gazeröckchen, weil sie in die Manege und aufs Trampolin musste, um dort Luftsprünge zu machen. »Bleibt es dabei?«, rief sie. »Soll ich mich in der Pause zu unserem Filmzaren setzen?«

»Seien Sie vorsichtig«, warnte Direktor Brausewetter. »Der Filmzar beißt.«

»Mich nicht«, sagte Rosa und drehte eine Pirouette.

»Setz dich ruhig in seine Loge, Liebling«, meinte der Jokus. »Und wenn er dich beißen sollte, beiße ich ihn wieder.«

»Ich werd’s ihm ausrichten.« Sie machte einen tiefen Knicks und hüpfte in die Stallgasse.

Das Programm verlief, wie sich das für ein Programm gehört, programmgemäß. Die Artisten, die Clowns, die Pferde und sogar die Tiger gaben sich besondere Mühe. Die Zuschauer waren bester Laune. Und auch Mister Drinkwater fühlte sich gut unterhalten. Manchmal machte er sich Notizen. Es sah aus, als gäbe er Zensuren. Wahrscheinlich rechnete er. Geschäftsleute haben das so an sich. Sie rechnen sogar im Traum. Es scheint sich zu lohnen.

Jetzt kam die große Pause, und die meisten standen auf, aber er blieb sitzen. Doch dann kam Rosa Marzipan, blond und in einem silbernen Kleid, und nun stand er auf. »Sie waren sehr gut«, stellte er fest. »Und Sie sind sehr hübsch.«

Sie gab ihm amüsiert die Hand. »Es tut wohl, richtig beurteilt zu werden.« Nachdem sich beide gesetzt hatten, holte sie ein Opernglas aus der Abendtasche und hielt es ihm hin.

Er nahm es, betrachtete Rosa durch das Glas und nickte. »Sogar ganz besonders hübsch!«

»Sie sind ein Schwerenöter, Mister Drinkwater«, sagte sie. »Hindurchschauen sollen Sie doch erst, wenn der Jokus und Mäxchen auftreten!«

»Schade«, meinte er.

Nun, die zweite Programmhälfte geriet noch glänzender als die erste. Das war ja auch kein Wunder. Alles wartete fieberhaft auf die Sensation, auf die Nummer >Der große Dieb und der kleine Mann<. Und als Professor Jokus von Pokus unter donnerndem Beifall die Manege betrat, presste Mister Drinkwater Rosa Marzipans Opernglas fest an die Augen. Er ließ es erst wieder sinken, nachdem die Taube Emma, mit Mäxchen auf dem Rücken, von ihrem Flug in die Zirkuskuppel zurückgekehrt und wohlbehalten auf der Hand des Professors gelandet war.

Er war achtundzwanzig Minuten lang nicht der berühmte Filmproduzent Drinkwater gewesen, sondern einer unter ein paar tausend verzauberten Zuschauern. Er hatte mit ihnen gelacht. Er hatte wie sie gestaunt. Er hatte ihre Angst geteilt. Er hatte wie sie geklatscht.

Und er stürzte, als das Rundgitter aus der Versenkung hochstieg, wie die anderen zur Manege, um den kleinen Mann, der ihnen allen zuwinkte, endlich zu sehen. Denn: Gesehen hatte er ihn, trotz Opernglas, nicht eine Sekunde.

Das Marzipanfräulein hatte den Herrn aus Hollywood nicht aus den Augen gelassen. Ihr war nichts entgangen. Sie wusste nun, dass er nicht nur der kühle Kaufmann war, der statt des Lebens Zahlen sah, statt der Menschen ihre Gehaltsansprüche und statt eines Blumenstraußes dessen Ladenpreis.

Als er sich aber durch die aufgeregte Menge durchgequält hatte und in die Loge zurückkam, war er schon wieder der kühle Rechner. »Die Zeltkuppel wird sich schlecht ausleuchten lassen«, sagte er verdrossen. »Aber den Flug auf der Taube muss ich, scharf wie durch die Lupe, im Kasten haben. Gibt es denn bei euch keine festen Häuser? Zirkusgebäude aus Stein? Mit stabilen Rampen für die Scheinwerfer in der Kuppel? Und für meine Kameraleute? Außerdem sind für Aufnahmen in Viermastzelten die Versicherungsprämien blödsinnig hoch.«

Rosa lachte. »Wenn das nicht so wäre, müssten nicht wir Zirkusleute, sondern die Versicherungsangestellten in Zelten arbeiten.«

»Eine wundervolle Idee!«, sagte Mister Drinkwater und schloss genießerisch die Augen. »Es wäre ihnen von Herzen zu gönnen.«

Dann wurde Rosa sachlich. Beispielsweise in München, berichtete sie, gäbe es den Zirkus Krone. Am Marsplatz. Nicht weit vom Hauptbahnhof. Ein stabiles und vor wenigen Jahren renoviertes Gebäude.

»Kann man den Zirkus mieten?«, fragte Drinkwater.

»Wozu?«, fragte das Marzipanfräulein. »Wir gastieren dort sowieso. Noch in diesem Jahr.«

»Hoffentlich nicht im Dezember, denn dann schlafe ich.«

»Direktor Brausewetter hat für Oktober und November abgeschlossen«, sagte Rosa.

»Allright«, meinte Drinkwater. »München ist gut. Und zwei Monate sind gut. Den Zirkus drehen wir im Zirkus, die Atelierszenen bei der >Bavaria< in Grünwald, und Pichelstein liegt, glaube ich, auch in der Nähe.«

»Was wollen Sie denn in Pichelstein?«

»Aber dort beginnt doch unser Film!«, erklärte er. »In dem kleinen Dorf mit den kleinen Häusern und den kleinen Einwohnern und Turnern und mit Mäxchens kleinen Eltern, wie sie beide mit ihren kleinen Koffern zu dem kleinen Bahnhof marschieren, um in der großen Welt ihr Glück zu versuchen. Oder wissen Sie einen besseren Anfang?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Es gibt keinen besseren, Mister Drinkwater.«

»Nennen Sie mich John«, sagte er vergnügt.

Die Zuschauer rundum wurden unruhig. Sie machten »Psst!« und »Schscht!«. Einer sagte sogar: »Nun halten Sie endlich die Klappe!«

Nach der Vorstellung traf man sich im Blauen Salon des Hotels, in dem der Jokus und Mäxchen wohnten. Anwesend waren, um das vorwegzunehmen, fünf Personen: Rosa Marzipan, John F. Drinkwater, der kleine Mann, Jokus von Pokus und - verlegen in eine Ecke geklemmt - Direktor Brausewetter. Er trug mausgraue Handschuhe. Sozusagen Halbtrauer. Die pomadisierten Schnurrbartspitzen trug er auf halbmast. Vielleicht war der Filmonkel aus Amerika noch immer auf ihn böse.

»O warte!«, flüsterte Mäxchen hingerissen, als Mister Drink-water auftauchte. »Der Mann hört ja oben gar nicht auf! Das wär was für mich! Die geborene Kletterstange!«

»Benimm dich!«, sagte der Jokus streng. Der kleine Mann saß auf dem Tisch und löffelte heiße Schokolade.

»Zu Befehl, Herr Professor«, wisperte Mäxchen.

Drinkwater zündete sich eine große schwarze Zigarre an und erklärte dann: »Ich möchte Mäxchen Pichelsteiners Lebensgeschichte verfilmen, und er muss die Rolle natürlich selber spielen. Auch die anderen Hauptrollen will ich nicht mit Schauspielern besetzen, sondern mit Ihnen. Gute Artisten sind fast immer brauchbare Schauspieler.«

»Und wer spielt den Zirkusdirektor?«, fragte Direktor Brausewetter vorsichtig.

Drinkwater lächelte. »Selbstverständlich Sie! Oder wissen Sie einen besseren? Nein? Ich auch nicht.«

Brausewetters welke Schnurrbartspitzen richteten sich wieder auf. Dann zog er, heimlich unterm Tisch, seine grauen Handschuhe aus und steckte sie weg. Kurz darauf trug er schneeweiße Handschuhe! Das war keine Hexerei, sondern er hatte immer ein weißes, ein graues und ein schwarzes Paar bei sich. Und er wechselte sie je nach der Laune, in der er sich befand. Das brauchte er zum Leben. Warum auch nicht? Es gibt schlechtere Gewohnheiten. Und die meisten sind teurer.