Mister Drinkwater erzählte ausführlich, wie er sich den Film vorstelle. Wann und wo er ihn drehen wolle. Dass er selbst die Regie übernehmen werde. Welche zwei Schauspieler er für die beiden Kinderdiebe im Auge habe, weil, so scherzte er, die echten Halunken, Bernhard und der Kahle Otto, vom Gefängnisdirektor höchstwahrscheinlich keinen Filmurlaub bekämen. So weit sei ihm alles klar. »Nur etwas fehlt mir noch«, meinte er. »Etwas sehr Wichtiges. Eine Liebesgeschichte. Denn eine Liebesgeschichte gehört in jeden Film. Aber die wird mir schon noch einfallen.«
Da lachte Mäxchen und hätte sich fast an der heißen Schokolade verschluckt.
»Vielleicht können wir Ihnen helfen«, sagte Rosa Marzipan und verzog keine Miene. »Wie wär’s, wenn sich in Ihrem Film eine der drei Luftspringerinnen in den Zauberkünstler verliebte? Und der Zauberkünstler in die hübsche blonde Luftspringerin?«
Drinkwater zog an seiner Havanna und dachte nach. »Keine schlechte Idee. Aber da fehlt noch der dramatische Konflikt. Der ist das Wichtigste. Den braucht das Publikum. Glück ohne Schwierigkeiten ist nichts fürs Kino.«
»Auch das ließe sich machen«, meinte Direktor Brausewetter, während er den linken weißen Handschuh zärtlich mit dem rechten streichelte. »Wenn zum Beispiel einer der Clowns auf den Zauberkünstler eifersüchtig wäre und in der Artistengarderobe dessen Frack mit dem des Kunstreiters vertauschte ...«
»Ich bin ganz Ohr«, sagte Drinkwater gespannt.
»Und wenn der Kunstreiter im Zauberfrack in die Manege ritte, ohne von dem Tausch etwas zu ahnen ... Und wenn dann plötz-
lich aus dem falschen Frack die großen Papierblumensträuße und die zwei dressierten Tauben herausflögen, und das weiße Kaninchen spränge in die Manege ... Und der Hengst würde kopfscheu, und der berühmte Kunstreiter fiele in den Sand .«
»Wundervoll!«, rief Drinkwater. »Das ist die Lösung! Liebe, Eifersucht, Spannung, vertauschte Fräcke, komische Szene vor ausverkauftem Haus, der Kunstreiter verprügelt den Clown, der Zauberkünstler küsst die appetitliche Blondine, mehr kann man nicht verlangen! Die Frage ist nur, ob ein so seriöser Herr wie Professor Jokus von Pokus die Rolle des Liebhabers spielen will.« Er blickte zu dem >seriösen Herrn< hinüber und riss die Augen auf.
Denn das Marzipanfräulein, von Beruf Luftspringerin, hatte sich zärtlich an den Zauberkünstler geschmiegt und meinte: »Er wird schon wollen.«
Und der Jokus fügte, ein bisschen verlegen, hinzu: »Ich werde wohl müssen.«
»Oha«, sagte Drinkwater. »Allmählich dämmert’s mir. Die Wirklichkeit war früher da als ich.«
»Stimmt.« Direktor Brausewetter freute sich wie ein Kind. »Auch der Clown und die vertauschten Fräcke und der Sturz vom Pferd - ich habe nichts erfunden, sondern alles ist neulich in meinem Zirkus passiert!«
»Hoch lebe die Wirklichkeit«, erklärte Mister Drinkwater vergnügt. »Manchmal hat das Leben fast so gute Einfälle wie die Filmleute.« Da lachten die anderen und er lachte fleißig mit.
Dann aber wurde er todernst, setzte sich kerzengerade und sagte: »Die so genannten künstlerischen Fragen wären damit fürs
Erste erörtert. Auch das musste sein. Doch jetzt beginnt der wichtigere Teil unsrer Konferenz, nämlich der geschäftliche.«
»Ich beantrage Vertagung«, meinte der Jokus. »Der Junge muss ins Bett. Es ist höchste Eisenbahn.«
»Bringen Sie ihn in seine Streichholzschachtel«, riet der Amerikaner. »Dann verhandeln wir weiter.«
Der Jokus schüttelte energisch den Kopf. »Ausgeschlossen. Er ist mein Partner.« Plötzlich zuckte er zusammen. »Wo bist du denn überhaupt?«
Es war, als habe der Blitz eingeschlagen. Alle starrten auf den Tisch. Der kleine Mann war verschwunden!
»Mäxchen!«, rief der Jokus. »Liebling!«, rief Rosa Marzipan. »Kleiner!«, rief Direktor Brausewetter.
Keine Antwort.
»Maxie!«, rief Mister Drinkwater.
Sie saßen still und steif wie hingemalt und hielten die Luft an. Nichts. Kein Laut. Nur draußen vor der Tür ging jemand langsam auf und ab.
Mit einem Satz war der Jokus an der Tür. Er riss sie auf. »Wer sind Sie?«
»Aber Herr Professor«, antwortete der Mann, »Sie kennen mich doch. Ich bin der Hoteldetektiv, der auf Mäxchen aufpasst.«
»Und wo ist er?«
»Die Frage verstehe ich nicht«, meinte der Detektiv perplex. »Er ist bei Ihnen. Ich habe die ganze Zeit die Tür bewacht, damit er nicht wieder gestohlen wird.«
»Er ist fort!«, rief Direktor Brausewetter und zog rasch die weißen Handschuhe aus.
»Das ist ganz unmöglich«, erklärte der Detektiv. »Der Blaue Salon hat nur diese eine Tür, und die habe ich, seit Sie hineingegangen sind, nicht aus den Augen gelassen.«
»Und warum antwortet er nicht, so laut wir auch rufen?«, fragte Drinkwater nervös. »Er ist verschwunden!«
»Ausgeschlossen.« Der Detektiv war nicht aus der Ruhe zu bringen. »Ihre Krawatte ist auch verschwunden. Trotzdem muss sie noch hier sein.« Tatsächlich. Drinkwaters bunte Krawatte war fort. Keiner hatte es bemerkt.
»Auf geht’s!«, rief Rosa Marzipan zuversichtlich. »In die Knie, meine Herren!«
Und schon krochen vier Männer auf allen vieren im Blauen Salon herum. Schade, dass kein Fotograf in der Nähe war. Es wäre ein prächtiger Schnappschuss geworden.
Rosa Marzipan kroch nicht. Ihr Rock war zu eng. Und sie dachte, vier Männer zu ihren Füßen seien genug. Sie durchforschte die höheren Regionen: die kleinen Ecktische, die Anrichte, den Bücherschrank, die Vitrine mit dem alten Porzellan und den zierlichen Schreibtisch aus der Biedermeierzeit. Eine der Schubladen stand offen und über ihren Rand hing der Zipfel einer bunten Krawatte aus weicher Foulardseide.
Behutsam hob Rosa den Krawattenzipfel hoch und sagte gerührt: »Hier liegt er ja, der Schurke!« Im Nu waren die vier Männer auf den Beinen. Sie drängten zum Schreibtisch, klopften die Hosenbeine sauber und blickten verzückt in die offene Schublade. Mäxchen schlief. Er schlief wie ein Murmeltier. Er wachte auch nicht auf, als der Jokus ihn hochnahm, vorsichtig in die hohle Hand legte und, mit ihm, auf Zehenspitzen den Salon verließ.
Erst als er ihn, oben im Schlafzimmer, in die alte Streichholzschachtel schob, schlug Mäxchen kurz die Augen auf, murmelte: »Ich war ja soo müde«, doch dann schlief er schon wieder.
Im Korridor vorm Schlafzimmer setzte sich der Hoteldetektiv auf einen Stuhl, trank schwarzen Kaffee und hielt Wache. Er durfte nicht schlafen.
Mister Drinkwater fuhr ins Hilton und rechnete. Denn er konnte nicht schlafen.
Und irgendwo in der großen Stadt Berlin saß Monsieur Boileau mit der merkwürdigen Reisegesellschaft aus Paris zusammen. Sie wollten nicht schlafen. Sie hatten finstere Pläne zu besprechen. Für den nächsten Tag. Und mit diesem nächsten Tage, wenn auch nicht gleich mit der merkwürdigen Reisegesellschaft, beginnt ...
Das dritte Kapitel
Es ist von Geschäften die Rede /Auch Rechnen gehört zu Leben / Das geheimnisvolle Kuvert / Herr von Goethe als Lehrmeister / Das zweite versiegelte Kuvert / Der Handel ist perfekt.
Die geschäftlichen Verhandlungen begannen gleich nach dem Frühstück. Wieder bewachte ein Hoteldetektiv den Blauen Salon, aber es war ein anderer Mann. Denn der Detektiv, der am Abend vorher und während der ganzen Nacht aufgepasst hatte, war natürlich müde und musste schlafen. Sie lösten einander alle zwölf Stunden ab.