Caramon warf ihr einen flüchtigen Blick zu, und zum ersten Mal wurde sich Crysania ihres Äußeren bewußt. Sie war in einen vermoderten schwarzen Samtvorhang eingehüllt, ihre weißen Roben waren zerrissen und blutverschmiert und schwarz vom Staub des Bodens. Unwillkürlich fuhr ihre Hand zu ihrem Haar; es hing in zotteligen Strähnen über ihr Gesicht. Sie konnte die getrockneten Tränen an ihren Wangen, den Schmutz, das Blut spüren... »Nun, ich bin nicht mehr die marmorne Jungfrau, die du einst kennengelernt hast«, sagte sie hochmütig, »so wie du nicht mehr der aufgedunsene Trunkenbold bist. Es scheint, wir haben beide etwas auf unserer Reise erfahren.«
»Ich weiß, daß ich etwas erfahren habe«, antwortete Caramon ernst.
»Hast du?« gab Crysania zurück. »Das frage ich mich! Hast du erfahren – so wie ich —, daß die Magier mich in die Vergangenheit geschickt haben in dem Wissen, daß ich nicht zurück kehren würde?«
Caramon starrte sie an. Sie lächelte bitter.
»Nein. Diese kleine Tatsache war dir entgangen, wie dein Bruder mir sagte. Das Zeitgerät kann nur von einer Person benutzt werden – von der Person, der es gegeben wurde, nämlich dir! Die Magier haben mich zum Sterben in die Vergangenheit geschickt, weil sie mich fürchteten!«
Caramon runzelte die Stirn. Er öffnete den Mund, schloß ihn, dann schüttelte er den Kopf. »Du hättest Istar mit dem Elf verlassen können, der deinetwegen gekommen war.«
»Wärst du gegangen?« herrschte Crysania ihn an. »Würdest du dein Leben in unserer Zeit aufgegeben, wenn du es verhindern kannst? Nein! Bin ich so anders?«
Caramon wollte ihr antworten, als Raistlin hustete.
Mit einem flüchtigen Blick zu dem Magier seufzte Crysania und sagte: »Du machst lieber ein Feuer, sonst werden wir noch alle umkommen.« Sie wandte Caramon, der immer noch dastand und sie schweigend musterte, den Rücken zu, dann ging sie zu seinem Bruder.
Beim Anblick des Magiers fragte sich Crysania, ob er etwas gehört hatte. Sie fragte sich, ob er noch bei Bewußtsein war.
Er war bei Bewußtsein, aber wenn er das Gespräch zwischen den beiden mitbekommen hatte, dann schien er zu schwach, um irgendein Interesse zu nehmen. Crysania goß etwas Wasser in eine Schale und kniete sich zu ihm. Sie riß ein sauberes Stück von ihren Roben und wischte sein Gesicht ab, das selbst in diesem eisigen Zimmer wie im Fieber brannte. Hinter sich hörte sie Caramon, der Stücke von den zerbrochenen Möbelstücken aufsammelte und sie in den Kamin stapelte.
»Ich brauche etwas zum Anzünden«, murmelte der große Mann. »Ah, diese Bücher...«
In diesem Augenblick bewegte sich Raistlin und unternahm einen schwachen Versuch, sich zu erheben.
»Nicht, Caramon!« schrie Crysania beunruhigt.
Caramon, mit einem Buch in der Hand, hielt inne.
»Gefährlich, mein Bruder!« keuchte Raistlin matt. »Zauberbücher! Berühr sie nicht...«
Seine Stimme erstarb, aber seine glitzernden Augen waren mit einem Blick so offensichtlicher Sorge auf Caramon gerichtet, daß selbst dieser überrascht war. Etwas Unverständliches murmelnd, ließ er das Buch fallen und begann auf dem Boden zu wühlen. Crysania sah Raistlins Augen sich vor Erleichterung schließen.
»Hier – sieht wie Briefe aus«, sagte Caramon nach einer Weile, als er in Papieren auf dem Boden stöberte. »Würde... würde dir das recht sein?« fragte er schroff.
Raistlin nickte nur, und kurz darauf hörte Crysania das Knistern von Flammen. Das lackierte Holz der zerbrochenen Möbel fing schnell Feuer, und bald leuchtete der Kamin in hellem Licht. Crysania sah, wie sich die blassen Gesichter im Schatten zurückzogen, aber sie verließen das Zimmer nicht. »Wir müssen Raistlin zum Feuer bringen«, sagte sie und erhob sich, »er hat etwas von einem Zaubertrunk gesagt...«
»Ja«, antwortete Caramon tonlos. Er trat zu Crysania und starrte auf seinen Bruder. Dann zuckte er die Schultern. »Er kann sich ja mit seiner Magie dorthin begeben, wenn er es wünscht.«
Crysanias Augen blitzten vor Zorn auf. Sie wandte sich zu Caramon, vernichtende Worte lagen auf ihren Lippen, aber auf eine schwache Geste von Raistlin biß sie sich auf die Lippen und hielt den Mund.
»Du suchst dir eine unpassende Zeit zum Erwachsenwerden aus, mein Bruder«, flüsterte der Magier.
»Vielleicht«, sagte Caramon langsam. Kopfschüttelnd ging er zum Feuer zurück. »Vielleicht spielt es auch keine Rolle mehr.«
Crysania, die Raistlin beobachtete, war verblüfft, ihn plötzlich lächeln und zufrieden nicken zu sehen. Als er jedoch zu ihr aufsah, verschwand sein Lächeln. »Ich kann aufstehen«, sagte er, »mit deiner Hilfe.«
»Hier, du wirst deinen Stab brauchen«, sagte sie und wollte nach ihm greifen.
»Berühr ihn nicht«, befahl Raistlin. Er bekam ihre Hand zu fassen. »Nein«, wiederholte er sanfter. Er hustete, bis er kaum noch atmen konnte. »Andere Hände... ihn berühren... Licht verschwindet...«
Crysania erschauerte unwillkürlich, als sie sich im Zimmer umsah. Raistlin, der die schimmernden Formen bemerkte, die außerhalb des Lichtes des Stabes schwebten, schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, daß sie uns angreifen«, sagte er, während Crysania die Arme um ihn legte und ihm beim Aufstehen half. »Sie wissen, wer ich bin.« Seine Lippen kräuselten sich höhnisch. »Sie wissen, wer ich bin«, wiederholte er fester, »und sie wagen nicht, mir in die Quere zu kommen. Aber...« Er hustete wieder und stützte sich schwer auf Crysania; ein Arm lag um ihre Schulter, die andere Hand umklammerte seinen Stab. »Es wird sicherer sein, das Licht des Stabes brennen zu lassen.«
Der Magier taumelte beim Sprechen und stürzte fast zu Boden. Als Crysania das rauhe Rasseln von Raistlins Atem hörte, war sie von Mitleid für seine Schwäche erfüllt. Dennoch konnte sie die glühende Hitze des Körpers spüren, der so dicht an ihren gepreßt war. Sein Blick traf ihren, als sie dort standen; und einen Augenblick zerbrach die spiegelgleiche Oberfläche seiner Augen, und sie sah Wärme und Leidenschaft. Sein Arm zog sie näher zu sich.
Crysania errötete, wollte verzweifelt einerseits weglaufen und andererseits für immer in dieser warmen Umarmung verharren. Sie spürte, wie Raistlin sich versteifte. Wütend zog er seinen Arm zurück. Er schob sie zur Seite und klammerte sich hilfesuchend an seinen Stab.
Aber er war noch zu schwach. Er taumelte. Crysania wollte ihm helfen, aber plötzlich stellte sich ein riesiger Körper zwischen sie und den Magier. Starke Arme fingen Raistlin auf, als wäre er nichts weiter als ein Kind. Caramon trug seinen Bruder zu einem geschwärzten Stuhl mit dickem Polster, den er zum Feuer gezogen hatte.
Einen Augenblick konnte sich Crysania nicht von der Stelle rühren. Erst als sie erkannte, daß sie allein in der Dunkelheit stand, außerhalb des Lichts von Feuer und Stab, eilte sie zum Kamin.
»Setz dich, Crysania«, sagte Caramon, zog einen weiteren Stuhl herbei und klopfte den Staub und die Asche von ihm ab.
»Danke«, murmelte sie und versuchte aus irgendeinem Grund, dem Blick des großen Mannes auszuweichen. Sie sank auf den Stuhl, kauerte sich dicht ans Feuer, starrte in die Flammen, bis sie glaubte, ihre Beherrschung wiedergewonnen zu haben.
Als sie dann in der Lage war, sich umzublicken, sah sie Raistlin auf seinem Stuhl sitzen, die Augen geschlossen. Caramon erwärmte Wasser in einem zerbeulten Eisentopf, den er, so wie er aussah, aus der Asche des Kamins hervorgezogen hatte. Er stand vor dem Kamin und starrte aufmerksam in das Wasser. Das Licht des Feuers glänzte auf seiner goldenen Rüstung, auf seiner glatten, sonnengebräunten Haut. Seine Muskeln traten hervor, als er seine Arme anspannte, um sich zu wärmen.
Er ist ein gutgebauter Mann, dachte Crysania, dann erschauerte sie. Wieder konnte sie ihn sehen, wie er den Raum unterhalb des verdammten Tempels betrat, das blutige Schwert in der Hand, Tod in den Augen...