Sie sah, wie Raistlin die Augen einen Spalt öffnete. Sein funkelnder Blick bohrte sich durch ihr Herz und schreckte sie auf, lenkte sie ab.
»Fahr fort«, drängte Caramon.
»Ich... ich erinnere mich... Er hatte das magische Gerät. Zumindest glaube ich das. Er sagte etwas darüber.« Crysania legte ihre Hand an die Stirn. »Aber ich weiß nicht mehr, was es war. Aber ich bin sicher, er sagte, er habe das Gerät!«
Raistlin lächelte leicht. »Sicherlich wirst du Crysania glauben, mein Bruder.« Er zuckte die Achseln. »Eine Klerikerin Paladins lügt nicht.«
»Dann ist Tolpan zu Hause? Jetzt?« fragte Caramon und versuchte diese verblüffende Information zu begreifen. »Und wenn ich zurückkehre, werde ich ihn vorfinden...«
»... in Sicherheit und gesund und vollgepackt mit den meisten deiner persönlichen Besitztümer«, beendete Raistlin sarkastisch den Satz. »Aber jetzt müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf dringlichere Angelegenheiten richten. Du hast recht, mein Bruder. Wir brauchen Nahrung und warme Kleidung, und wahrscheinlich werden wir hier nichts finden. Die Zeit, in der wir uns jetzt befinden, ist ungefähr hundert Jahre nach der Umwälzung. Dieser Turm war in all diesen Jahren verlassen. Er wird nun von den Kreaturen der Dunkelheit bewacht, die durch den Fluch des Magiers hervorgerufen wurden, dessen Körper immer noch an den Widerhaken der Tore unter uns aufgespießt ist. Der Eichenwald von Shoikan ist um den Turm gewachsen, und niemand auf Krynn wagt ihn zu betreten. Niemand außer mir natürlich. Nein, niemand kann eintreten. Aber die Wächter werden keinen von uns – dich, mein Bruder, beispielsweise – vom Gehen abhalten. Du wirst in der Stadt Palanthas Lebensmittel und Kleidung kaufen. Ich könnte das zwar mit meiner Magie bewerkstelligen, aber ich wage nicht, unnötig Energie zwischen jetzt und der Zeit zu verbrauchen, wenn ich... wenn ich mit Crysania das Portal durchschreite.«
Caramons Augen weiteten sich. Sein Blick ging zu dem rußgeschwärzten Fenster, seine Gedanken wanderten zu den entsetzlichen Geschichten über den Eichenwald von Shoikan.
»Ich werde dich mit einem Zauber ausrüsten, der dich beschützt, mein Bruder«, fügte Raistlin aufgebracht hinzu, als er den ängstlichen Gesichtsausdruck Caramons bemerkte. »Ein Zauber wird in der Tat notwendig sein, nicht nur um dir auf den Weg durch den Eichenwald zu helfen. Hier ist es bei weitem gefährlicher. Die Wächter gehorchen mir, aber sie sind gierig nach Blut. Du solltest deinen Fuß nicht ohne mich außerhalb dieses Raumes setzen. Vergiß das nicht. Du auch nicht, Crysania.«
»Wo ist dieses Portal?« fragte Caramon.
»Im Laboratorium über uns, unter dem Turm«, erwiderte Raistlin. »Die Portale wurden an dem sichersten Platz untergebracht, den sich die Zauberer ausdenken konnten, weil sie, wie du dir vorstellen kannst, äußerst gefährlich sind.«
»Es sieht Zauberern ähnlich, daß sie an Dingen herumpfuschen, die sie lieber in Ruhe lassen sollten«, knurrte Caramon. »Warum in Namen der Götter haben sie einen Weg zur Hölle geschaffen?«
Raistlin legte seine Fingerspitzen zusammen, starrte in das Feuer, sprach zu den Flammen, als ob sie die einzigen mit der Gabe wären, ihn zu verstehen. »Im Wissensdurst werden viele Dinge erschaffen. Einige sind gut und für uns alle nützlich. Ein Schwert in deinen Händen, Caramon, tritt für die Sache der Rechtschaffenheit und der Wahrheit ein und beschützt die Unschuldigen. Aber ein Schwert in den Händen beispielsweise unserer geliebten Schwester Kitiara würde die Köpfe der Unschuldigen abhauen, wenn es ihr gefällt. Ist das ein Fehler des Erfinders des Schwertes?«
»N...«, begann Caramon, aber sein Zwilingsbruder überhörte ihn.
»Vor langer Zeit, im Zeitalter der Träume, als Zauberkundige noch angesehen waren und die Magie auf Krynn blühte, erhoben sich die fünf Türme der Erzmagier wie Leuchttürme im dunklen Meer der Unwissenheit, die in der Welt herrschte. Hier wurde mit großartiger Magie zum Besten aller gearbeitet. Und es gab Pläne für noch Großartigeres. Wer weiß, vielleicht könnten wir jetzt in der Luft reisen, uns wie Drachen in den Himmel erheben, vielleicht sogar diese erbärmliche Welt verlassen und andere, weitentlegene Welten aufsuchen...« Er seufzte. »Aber das sollte nicht der Fall sein. In ihrem Wunsch, ihre großartigen Arbeiten zu beschleunigen, entschieden die Zauberer, daß sie untereinander in Verbindung stehen müßten, von einem Turm zum anderen, ohne die Notwendigkeit des lästigen Zaubers ›Teleportieren‹. Und so wurden die Portale gebaut.«
»Sie waren erfolgreich?« Crysanias Augen glänzten vor Verwunderung.
»Sie waren erfolgreich!« schnaubte Raistlin verächtlich. »Jenseits ihrer wildesten Träume und ihrer schlimmsten Alpträume. Denn die Portale ermöglichten nicht nur die Bewegung in einem Schritt zwischen den weit entfernten Türmen und Festungen der Magie, sondern auch in die Reiche der Götter, wie ein törichter Zauberer meines eigenen Ordens zu seinem Pech herausfand.« Er erbebte plötzlich und zog seine schwarzen Roben fester um sich. »Verführt von der Königin der Finsternis, wie nur sie einen Sterblichen verführen kann, wenn sie es möchte, benutzte er das Portal, um ihr Reich zu betreten und die Belohnung zu erhalten, die sie ihm nachts in seinen Träumen angeboten hatte.« Raistlin lachte, ein bitteres, höhnisches Lachen. »Narr! Keiner weiß, was mit ihm geschah. Aber er kehrte niemals durch das Portal zurück. Aber die Königin und mit ihr Legionen von Drachen...«
»Der erste Drachenkrieg!« rief Crysania.
»Ja, herbeigeführt durch einen Menschen meiner Art, ohne Disziplin, ohne Selbstbeherrschung.« Raistlin starrte grübelnd ins Feuer.
»Aber davon habe ich nie etwas gehört!« sagte Caramon. »Nach den Legenden kamen die Drachen zusammen...«
»Deine Geschichtskenntnisse sind auf Gutenachtgeschichten begrenzt, mein Bruder!« sagte Raistlin ungeduldig. »Und sie zeigen lediglich, wie wenig du von Drachen weißt. Sie sind unabhängige Wesen, stolz, egoistisch und völlig unfähig, ein Abendessen zu kochen, geschweige denn eine Art von Kriegsanstrengung zu koordinieren. Nein, die Königin ist in jener Zeit vollständig in die Welt getreten, nicht nur als Schatten, wie es in unserem Krieg mit ihr war. Sie führte Krieg gegen die Welt, und nur durch Humas großes Opfer wurde sie zurückgetrieben.« Er machte eine Pause, führte seine Hände zu den Lippen und sann nach. »Einige sagen, daß Huma die Drachenlanze nicht verwendete, um sie körperlich zu vernichten, wie es in den Legenden heißt, sondern daß die Lanze über eine magische Eigenschaft verfügte, die es ihm erlaubte, sie zurück in das Portal zu treiben und es zu verschließen. Die Tatsache, daß er sie zurücktrieb, beweist, daß sie – in dieser Welt – verwundbar ist.« Er starrte in die Flammen. »Hätte jemand mit wahrer Kraft am Portal gestanden, als sie eintrat, jemand, der fähig gewesen wäre, sie völlig zu vernichten, anstatt sie zurückzutreiben, dann hätte die Geschichte neu geschrieben werden müssen.«
Niemand sprach. Crysania starrte in die Flammen, sah vielleicht die gleiche glorreiche Vision wie der Erzmagier. Caramon sah in das Gesicht seines Bruders.
Raistlins Blick wandte sich plötzlich von den Flammen ab, seine Augen blitzten in klarer, kalter Stärke auf. »Wenn ich morgen stärker bin, werde ich allein ins Laboratorium gehen und mit meinen Vorbereitungen beginnen. Du, Crysania, solltest anfangen, zu deinem Gott zu sprechen.«
Crysania schluckte nervös. Bebend zog sie ihren Stuhl näher zum Feuer. Aber plötzlich war Caramon auf den Füßen, stand vor ihr. Er reichte nach unten, seine starken Hände ergriffen ihre Arme, zwangen sie, in seine Augen zu sehen.
»Das ist Wahnsinn, Crysania«, sagte er; seine Stimme war sanft und mitfühlend. »Laß mich dich von diesem finsteren Ort wegführen! Du bist verängstigt – und du hast auch allen Grund, Angst zu haben. Vielleicht stimmt nicht alles, was Par-Salian über Raistlin sagte. Vielleicht stimmt auch alles nicht, was ich über ihn gedacht habe. Vielleicht habe ich ihn falsch eingeschätzt. Aber eins sehe ich deutlich, Crysania, du hast Angst. Laß Raistlin die Sache allein verfolgen! Laß ihn die Götter herausfordern – wenn es das ist, was er will! Aber du mußt nicht mit ihm gehen. Kommt mit nach Hause! Laß mich dich mitnehmen in unsere Zeit, weg von hier.«