»Aber sag mir eins«, fragte Michael im Gehen, »ist es wahr, daß dieser Caramon sich mit einer Hexe abgibt?«
13
»Wohin willst du?« fragte Caramon barsch. Er blinzelte, um sich nach dem hellen Schein der Herbstsonne an die Dunkelheit zu gewöhnen, die in seinem Zelt herrschte.
»Ich ziehe aus«, antwortete Crysania, die sorgfältig ihre weißen Roben faltete und in eine Truhe legte, die sie unter ihrem Feldbett aufbewahrt hatte. Jetzt stand die Truhe geöffnet neben ihr.
»Das haben wir doch schon besprochen«, knurrte Caramon leise. Er warf einen Blick auf die Wachen draußen am Zelteingang, dann zog er sorgfältig den Vorhang zu.
Caramons Zelt war sein ganzer Stolz und seine ganze Freude. Ursprünglich einem wohlhabenden Ritter von Solamnia gehörend, hatten es ihm zwei junge Männer als »Geschenk« überreicht. Es war aus einem Gewebe hergestellt, das niemand kannte, und es war so gut gewebt, daß der Wind nicht einmal durch die Säume dringen konnte. Regenwasser lief von ihm ab; Raistlin hatte erklärt, daß es mit einem bestimmten Öl behandelt worden sei. Es war für Caramons Feldbett, riesige Truhen mit Karten, Geld und Juwelen, die sie aus dem Turm der Erzmagier mitgebracht hatten, Kleidung, seine Rüstung, ein Feldbett für Crysania und eine Truhe für ihre Kleidung groß genug. Und es schien immer noch nicht überfüllt zu sein, wenn Caramon Gäste empfing.
Raistlin schlief und studierte in einem kleineren Zelt aus dem gleichen Gewebe; dieses Zelt war neben dem seines Bruders errichtet worden. Obgleich Caramon ihn eingeladen hatte, das größere Zelt mit ihm zu teilen, hatte der Magier auf seiner Privatsphäre bestanden. Da Caramon das Bedürfnis seines Bruders nach Einsamkeit und Ruhe kannte, hatte er keine Einwände erhoben. Crysania jedoch hatte offen protestiert, als ihr gesagt wurde, sie müsse in Caramons Zelt wohnen.
Vergeblich hatte Caramon ihr dargelegt, daß sie bei ihm sicherer sei. Geschichten über ihre »Hexenkraft«, ihr seltsames Medaillon und ihre Heilung des großen Kriegers hatten sich schnell im Lager verbreitet und wurden allen Neuankömmlingen eifrig zugeflüstert. Die Klerikerin verließ niemals ihr Zelt, ohne daß düstere Blicke ihr folgten. Frauen drückten ihre Kinder an sich, wenn sie sich näherte.
»Ich bin mir deiner Argumente wohl bewußt«, bemerkte Crysania, während sie weiter ihre Kleider zusammenlegte und verstaute, ohne zu dem großen Mann aufzusehen. »Aber ich teile sie nicht. Oh, ich habe deine Geschichten über Hexenverbrennung gehört. Mehr als einmal! Ich bezweifle zwar nicht ihre Wahrheit, aber das war in einer fernen Zeit.«
»In welches Zelt willst du denn ziehen?« fragte Caramon; sein Gesicht lief rot an. »Zu meinem Bruder?«
Crysania hörte mit dem Zusammenlegen auf, hielt ein Kleid lange Zeit über ihrem Arm und starrte geradeaus. Als sie antwortete, war ihre Stimme kalt und ruhig wie ein Wintertag. »Es gibt noch ein kleines Zelt, eines wie dieses. Darin werde ich wohnen. Du kannst eine Wache aufstellen, wenn du es für erforderlich hältst.«
»Crysania, es tut mir leid«, sagte Caramon und trat zu ihr. Sie sah immer noch nicht zu ihm auf. Er streckte seine Hände aus, ergriff sanft ihre Arme und drehte sie um, zwang sie, ihm ins Gesicht zu sehen. »Ich meinte es nicht so. Bitte verzeih mir. Ja, es ist erforderlich, eine Wache aufzustellen! Aber es gibt keinen, dem ich vertraue, Crysania, außer mir selbst. Aber...« Sein Atem ging schneller, der Druck seiner Hände an ihren Armen wurde unmerklich stärker. »Ich liebe dich, Crysania«, sagte er leise. »Du bist ganz anders als jede Frau, die ich bisher kennengelernt habe! Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Als ich dich kennenlernte, hielt ich dich für kalt und gleichgültig, völlig in Anspruch genommen von deiner Religion. Aber als ich dich in den Klauen dieses Halbogers sah, erkannte ich deinen Mut, und als ich daran dachte, was sie dir antun wollten...« Er spürte, wie sie unwillkürlich schauderte. »Ich habe dich mit meinem Bruder gesehen.« Seine Stimme wurde sehnsüchtig. »Du umsorgst ihn so lieb, so geduldig.«
Crysania befreite sich nicht aus seinem Griff. Sie sah mit ihren klaren grauen Augen zu ihm auf. »Ich habe deine wachsende Zuneigung zu mir gespürt«, sagte sie traurig, »und obwohl ich dich zu gut kenne, um zu glauben, daß du mich zu Dingen nötigen würdest, die ich nicht will, so ist es mir doch unbehaglich, mit dir allein in einem Zelt zu schlafen.«
»Crysania!« rief Caramon. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, und seine Hände zitterten.
»Was du für mich empfindest, ist keine Liebe, Caramon«, sagte Crysania sanft. »Du bist einsam, du vermißt deine Frau. Es ist sie, die du liebst. Ich weiß es, ich habe Zärtlichkeit in deinen Augen gesehen, wenn du von Tika sprachst.«
Caramons Gesicht verdunkelte sich bei Tikas Namen. »Was weißt du denn schon von der Liebe?« fragte er, ließ sie los und sah weg. »Ich liebe Tika, sicher. Ich habe schon viele Frauen geliebt. Tika hat auch ihren Anteil an Männern gehabt, vermute ich.« Er holte wütend Luft. Das war nicht die Wahrheit, und er wußte es. »Tika ist menschlich!« fuhr er fort. »Sie ist Fleisch und Blut – keine Eissäule!«
»Was ich von der Liebe weiß?« wiederholte Crysania. Ihre grauen Augen verdunkelten sich vor Zorn. »Ich sage dir, was ich von der Liebe weiß. Ich...«
»Sag es nicht!« rief Caramon leise, völlig die Beherrschung verlierend, und umfaßte sie. »Sag nicht, daß du Raistlin liebst! Er verdient deine Liebe nicht! Er gebraucht dich, so wie er mich gebraucht hat! Und er wirft dich weg, wenn er mit dir fertig ist!«
»Laß mich gehen!« herrschte Crysania ihn an.
»Kannst du das nicht sehen?« rief Caramon. »Bist du blind?«
»Entschuldigt«, sagte eine sanfte Stimme, »wenn ich euch störe. Aber es gibt wichtige Neuigkeiten.«
Bei dem Klang dieser sanften Stimme lief Crysanias Gesicht erst weiß, dann dunkelrot an. Auch Caramon schrak zusammen, seine Hände lösten ihren Griff. Crysania zog sich von ihm zurück, in ihrer Eile stolperte sie über die Truhe und fiel auf die Knie. Ihr Gesicht wurde von ihrem schwarzen, fließenden Haar gut verborgen, und so blieb sie neben der Truhe knien und gab vor, ihre Kleidung zu ordnen.
Mit finsterem Blick wandte sich Caramon seinem Zwillingsbruder zu.
Raistlin musterte Caramon kühl aus seinen spiegelgleichen Augen. Sein Gesicht war ausdruckslos. Aber Caramon hatte eine Sekunde lang einen Riß in seinen Augen gesehen. Dieser vor Eifersucht brennende Blick erschreckte ihn, versetzte ihm einen fast körperlicher» Schlag.
»Was für Neuigkeiten?« knurrte Caramon.
»Boten sind aus dem Süden gekommen«, sagte Raistlin.
»Und?«
Raistlin warf seine Kapuze zurück und trat nach vorne. Sein Blick hielt den seines Bruders gefangen und ließ die Ähnlichkeit zwischen ihnen stark hervortreten.
»Die Zwerge von Thorbadin treffen Kriegsvorbereitungen!« zischte Raistlin. Seine Hand ballte sich zur Faust. Er sprach mit solcher Leidenschaft, daß Caramon ihn erstaunt ansah und Crysania den Kopf hob.
Verwirrt befreite sich Caramon von dem fiebrigen Blick seines Bruders, drehte sich um und gab vor, einige Landkarten auf dem Kartentisch verschieben zu müssen. Er zuckte die Achseln. »Hast du etwas anderes erwartet?« fragte er kühl. »Es war schließlich deine Idee, von einem versteckten Schatz zu sprechen. Wir haben aus unserem Ziel kein Geheimnis gemacht. In der Tat ist das unser Werbespruch geworden! ›Schließt euch Fistandantilus an und stürmt das Gebirge!‹«
Caramon hatte diese Worte gedankenlos ausgesprochen, aber ihre Wirkung war verblüffend. Raistlin wurde aschgrau im Gesicht. Er schien etwas sagen zu wollen, aber aus seinem Mund kamen keine verständlichen Töne. Seine eingefallenen Augen funkelten. Mit immer noch geballter Faust trat er auf seinen Bruder zu.
Crysania sprang auf die Füße. Caramon wich zurück; seine Hand schloß sich um den Knauf seines Schwertes. Aber langsam gewann Raistlin die Beherrschung wieder. Mit einem bösartigen Knurren drehte er sich um und verließ das Zelt.