Caramon blieb stehen, unfähig, die Reaktion seines Bruders zu begreifen. Auch Crysania starrte verblüfft Raistlin nach. Dann wurden beide von rufenden Stimmen außerhalb des Zeltes aus ihren Gedanken gerissen.
Kopfschüttelnd ging Caramon zum Zelteingang. Als er dort war, drehte er sich halb um, sah aber Crysania nicht an, während er sprach. »Wenn wir uns wirklich auf den Krieg vorbereiten müssen«, sagte er kalt, »werde ich keine Zeit haben, mir um dich Sorgen zu machen. Wie ich zuvor schon dargelegt habe, wirst du in einem Zelt allein nicht sicher sein. Du wirst also weiter hier schlafen. Ich lasse dich in Ruhe, dessen kannst du sicher sein. Du hast mein Ehrenwort.« Damit trat er aus dem Zelt und begann, sich mit seinen Wachen zu beratschlagen.
Vor Scham errötend, jedoch zu zornig, um sprechen zu können, blieb Crysania einen Augenblick stehen, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Dann verließ auch sie das Zelt. Ein Blick auf die Gesichter der Wachen zeigte ihr, daß sie einen Teil ihrer Unterhaltung gehört haben mußten.
Sie beachtete die neugierigen, amüsierten Blicke nicht. Doch bemerkte sie, wie flatternde schwarze Roben im Wald am Rand des Lagers verschwanden. Sie kehrte zum Zelt zurück, ergriff ihren Umhang, warf ihn sich eilig um die Schultern und ging in die gleiche Richtung.
Caramon sah Crysania den Wald betreten. Obwohl er Raistlin nicht gesehen hatte, ahnte er, warum Crysania diese Richtung einschlug. Er wollte ihren Namen rufen. Er wußte zwar nicht, ob wirkliche Gefahren in dem Wald lauerten, der sich am Fuß des Garnet hinzog, aber in diesen unruhigen Zeiten war es das beste, kein Risiko einzugehen.
Als ihr Name jedoch auf seinen Lippen lag, sah er zwei seiner Männer wissende Blicke austauschen. Er hatte plötzlich das Bild vor Augen, wie er einer Klerikerin wie ein liebeskranker Junge nachrief, und sein Mund schloß sich wieder. Außerdem kam Garik auf ihn zu, gefolgt von einem erschöpft aussehenden Zwerg und einem hochgewachsenen, dunkelhäutigen jungen Mann, der mit den Fellen und Federn eines Barbaren geschmückt war. Die Boten erkannte er. Er mußte mit ihnen sprechen. Aber... Sein Blick glitt mehr als einmal zum Wald. Crysania war verschwunden. Caramon wurde von der Ahnung einer Gefahr ergriffen. Sie war so stark, daß er jetzt Crysania am liebsten nachgestürzt wäre. Alle seine Kriegerinstinkte warnten ihn. Er konnte seiner Furcht keinen Namen geben, aber sie war da.
Dennoch konnte er nicht einfach davonstürmen, um einem Mädchen nachzujagen, und die Boten stehen lassen. Seine Männer würden ihn niemals mehr achten. Er wandte sich um, um die Boten zu begrüßen und in sein Zelt zu führen.
Dort angekommen, ließ er sie Platz nehmen, ließ Essen kommen und Getränke eingießen, dann entschuldigte er sich und stahl sich fort...
Fußstapfen im Sand, die mich weiterführen...
Als ich aufblicke, sehe ich das Schafott, den Kopf mit der Kapuze auf dem Richtblock, den Scharfrichter mit Kapuze; die scharfe Klinge seines Beils glänzt in der brennenden Wüste.
Das Beil fällt, der abgetrennte Kopf des Opfers rollt über die Plattform, die Kapuze fällt zurück...
»Mein Kopf!« flüsterte Raistlin gequält.
Der Scharfrichter lacht, entfernt seine Kapuze, enthüllt...
»Mein Gesicht!« murmelte Raistlin. Seine Angst dehnte sich über seinen Körper aus wie ein bösartiges Geschwür; ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Er hielt seinen Kopf umklammert und versuchte, die bösen Bilder zu verbannen, die ihn in seinen Träumen Nacht für Nacht heimsuchten und ihm auch noch am Tag blieben.
Aber sie wollten nicht verschwinden. »Herr der Vergangenheit und Gegenwart!« Raistlin lachte – es war ein bitteres, höhnisches Lachen. »Ich bin Herr über nichts! All diese Macht, und ich sitze in der Falle! In der Falle! Ich folge seinen Fußstapfen, ich weiß, daß jede Sekunde, die verstreicht, zuvor verstrichen ist! Ich sehe Leute, die ich niemals gesehen habe, dennoch kenne ich sie! Ich höre das Echo meiner eigenen Worte, bevor ich sie ausspreche! Dieses Gesicht!« Seine Hände preßten sich gegen seine Wangen. »Dieses Gesicht! Sein Gesicht! Nicht meins! Wer bin ich? Ich bin mein eigener Scharfrichter!«
Seine Stimme schwoll zu einem Kreischen an. In seiner Raserei begann er mit den Fingernägeln an der Haut seines Gesichts zu kratzen, als ob es eine Maske wäre, die er von seinen Knochen abreißen könnte.
»Hör auf! Raistlin, was tust du da? Hör auf, bitte!«
Feste, aber sanfte Hände ergriffen seine Handgelenke, und er kämpfte gegen sie, wand sich. Aber dann ging der Wahnsinn vorüber. Die dunklen Wasser, von denen er überflutet worden war, wichen zurück. Er konnte wieder sehen und fühlen und hören. Sein Gesicht brannte. Er sah Blut an seinen Nägeln.
»Raistlin!« Crysanias Stimme! Er sah sie vor sich stehen, die Augen aufgerissen und voll Sorge.
»Es geht mir wieder gut«, sagte Raistlin kalt. »Laß mich in Ruhe!« Er zog aus einer Tasche ein sauberes Tuch und begann die Wunden an seinem Gesicht abzutupfen.
»Nein, das stimmt nicht«, murmelte Crysania, nahm das Tuch aus seiner bebenden Hand und berührte sanft die blutenden Wunden. »Bitte, laß mich es tun«, sagte sie, als er etwas Unverständliches knurrte. »Ich weiß, du erlaubst mir nicht, dich zu heilen, aber hier in der Nähe ist ein Bach mit klarem Wasser. Komm, trink ein wenig Wasser, ruh dich aus und laß mich die Wunden waschen.«
Bittere Worte lagen auf Raistlins Lippen. Er hob eine Hand, um Crysania von sich zu stoßen. Aber dann erkannte er, daß er nicht wollte, daß sie ging. Die Dunkelheit des Traumes wich, wenn sie bei ihm war. Die Berührung eines warmen menschlichen Leibes war nach den kalten Fingern des Todes tröstend, und darum nickte er mit einem erschöpften Seufzer.
Mit vor Schmerz und Sorge blassem Gesicht legte Crysania den Arm um ihn und stützte ihn, während sie durch den Wald gingen.
Als sie das Ufer des Flusses erreichten, setzte sich der Erzmagier auf einen großen, flachen Stein, der von der Herbstsonne gewärmt wurde. Crysania tauchte das Tuch in das Wasser, kniete sich zu ihm und säuberte die Wunden in seinem Gesicht.
Raistlin sprach nicht.
»Erzähl mir, was los ist«, sagte Crysania, hielt in ihrer Tätigkeit inne und legte ihre Hand auf die seine. »Du grübelst nur noch, seit wir den Turm verlassen haben. Hat es etwas mit dem verschwundenen Portal zu tun? Etwas mit Astinus, mit dem du in Palanthas geredet hast?«
Raistlin antwortete nicht. Er sah sie nicht einmal an. Die Sonne schien warm auf seine schwarzen Roben, aber Crysanias Berührung war wärmer als die Sonne. Irgendwo wägte ein Teil seines Geistes kalt ab und rechnete: Soll ich es ihr sagen? Was werde ich gewinnen? Gewinne ich mehr, als wenn ich schweige? Ja, zieh sie an dich, gewöhne sie an die Dunkelheit... »Ich weiß«, antwortete er endlich, »daß das Portal an einem Ort in Thorbadin ist, in der magischen Festung Zaman. Das habe ich von Astinus erfahren... Aus Legenden wissen wir, daß Fistandantilus sich auf die sogenannten Zwergentorkriege einließ, um das Gebirgskönigreich Thorbadin für sich beanspruchen zu können. Astinus schreibt dasselbe in seinen ›Chroniken‹. Aber wenn man zwischen den Zeilen liest, genau liest, so wie ich es hätte tun sollen, aber in meiner Arroganz unterlassen habe, wird man die Wahrheit lesen!«
Seine Hände ballten sich zusammen. Crysania saß vor ihm und hielt das feuchte, blutbefleckte Tuch in der Hand; sie stand ganz in seinem Bann.
»Fistandantilus kam hierher, um das Gleiche zu tun, das auch ich hier tue!« Raistlin rief die Worte mit einer seltsamen Leidenschaft. »Thorbadin interessierte ihn überhaupt nicht! Es war alles eine Vortäuschung, ein Trick! Er wollte nur eins – das Portal! Die Zwerge standen ihm im Weg, so wie sie jetzt mir im Weg stehen. Sie kontrollierten damals die Festung, sie kontrollierten das Land um die Festung. Der einzige Weg zum Portal bestand darin, einen Krieg anzuzetteln, um ihm so nah wie möglich zu kommen und es durchschreiten zu können. Und somit wiederholt sich die Geschichte. Denn ich muß tun, was er getan hat... Und ich tue es!« Er starrte schweigend ins Wasser.