»So viel ich aus den ›Chroniken‹ von Astinus weiß«, sagte Crysania, »mußte der Krieg zwangsläufig eintreten. Es gab seit langer Zeit böses Blut zwischen den Hügelzwergen und ihren Verwandten. Du kannst dir nicht die Schuld geben...«
Raistlin fauchte ungeduldig: »Die Zwerge interessieren mich überhaupt nicht! Sie können von mir aus im Sirrion-Meer versinken.« Er sah sie an, kalt, ruhig. »Du sagst, du hast Astinus’ Arbeiten über dieses Thema gelesen. Wenn dem so ist, denk nach! Was hat das Ende der Zwergentorkriege ausgelöst?«
Crysania erblaßte. »Die Explosion«, sagte sie leise. »Die Explosion, die die Ebenen von Dergod zerstörte. Tausende starben und auch...«
»Auch Fistandantilus!« ergänzte Raistlin mit grimmiger Betonung.
Lange Zeit konnte Crysania ihn nur stumm anblicken. Dann begriff sie die volle Bedeutung seiner Aussage. »O nein!« rief sie, ließ das blutverschmierte Tuch fallen und umklammerte Raistlins Hände. »Du bist doch nicht die gleiche Person! Die Umstände sind anders. Sie müssen es sein! Dir ist ein Irrtum unterlaufen!«
Raistlin schüttelte den Kopf und lächelte zynisch. Sanft löste er seine Hand aus der ihren, erfaßte ihr Kinn und hob ihren Kopf, so daß sie ihm in die Augen sehen konnte. »Nein, die Umstände sind nicht anders. Mir ist kein Irrtum unterlaufen. Ich bin in der Zeit gefangen und eile meinem eigenen Untergang entgegen.«
»Woher weißt du das? Wie kannst du dessen sicher sein?«
»Ich weiß es, weil noch eine andere Person an jenem Tag mit Fistandantilus umgekommen ist.«
»Wer?« fragte Crysania. Aber noch bevor er ihr antwortete, spürte sie, wie sich ein dunkler Mantel der Angst um ihre Schultern legte.
»Ein alter Freund von dir.« Raistlins Lächeln verzerrte sich. »Denubis!«
»Denubis?« wiederholte sie tonlos.
»Ja«, erwiderte Raistlin. »So viel habe ich von Astinus erfahren. Wie du dich erinnern wirst, war dein Klerikerfreund von Fistandantilus angezogen, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte. Er hatte seine Zweifel an der Kirche, ungefähr die gleichen wie du. Ich nehme an, daß Fistandantilus ihn während jener letzten entsetzlichen Tage in Istar überredet hat, mit ihm zu gehen...«
»Du hast mich nicht überredet«, unterbrach ihn Crysania. »Ich habe mich entschieden zu gehen! Es war mein Entschluß.«
»Natürlich«, sagte Raistlin und ließ sie los. Ihm war nicht bewußt gewesen, daß er ihre weiche Haut liebkost hatte. Jetzt fühlte er unwillkürlich sein Blut wallen. Er ertappte sich, wie sein Blick zu ihren gewölbten Lippen, ihrem weißen Hals ging. Vorsicht, dachte er, es wird meine Pläne durcheinanderbringen... Er wollte sich erheben, aber Crysania bekam seine Hand mit ihren beiden Händen zu fassen und legte ihre Wange in seine Handfläche.
»Nein«, sagte sie leise. Ihre grauen Augen sahen zu ihm auf und hielten ihn mit ihrem entschlossenen Blick fest. »Wir werden die Zeit verändern, du und ich! Du bist mächtiger als Fistandantilus, und ich bin stärker im Glauben als Denubis! Ich hörte die Forderungen des Königspriesters an die Götter. Ich kenne seinen Fehler! Paladin wird meine Gebete beantworten, so wie er es in der Vergangenheit getan hat. Gemeinsam werden wir, du und ich...«
Plötzlich lag sie in seinen Armen. Sein Mund suchte ihre Lippen, seine Lippen berührten ihre Augen, ihren Hals. Seine Finger fuhren durch ihr Haar. Sein Duft strömte in seine Nase, und der süße Schmerz des Verlangens floß durch seinen Körper.
Sie gab seinem Feuer nach, so wie sie seiner Magie nachgegeben hatte, und küßte ihn. Raistlin sank auf den weichen Laubteppich. Als er dalag, zog er Crysania zu sich herunter. Ihre Haut war kühl, ihre Lippen wie süßes Wasser für einen Mann, der am Verdursten war. Er schloß die Augen, und dann erschien ein Gesicht in seinem Geist: eine Göttin – dunkelhaarig, dunkeläugig, frohlockend, lachend...
»Nein!« schrie Raistlin. »Nein!« kreischte er halberstickt, während er Crysania von sich schleuderte. Zitternd taumelte er auf die Füße. Er zog seine schwarze Kapuze über den Kopf und versuchte, seine Fassung, seine Beherrschung wiederzuerlangen.
»Raistlin!« rief Crysania und klammerte sich an ihn.
Ihre Berührung verschlimmerte den Schmerz. Er ergriff den zarten weißen Stoff ihrer Roben. Mit einem Ruck riß er ihn von ihren Schultern, während er mit der anderen Hand ihren halbnackten Körper in das Laub stieß. »Ist es das, was du willst?« fragte er. »Wenn ja, dann warte hier auf meinen Bruder. Er wird bald kommen!« Er hielt inne, rang um Atem.
Crysania starrte ihn wortlos an.
»Ist es das, warum wir hierhergekommen sind?« fuhr Raistlin gnadenlos fort. »Ich dachte, dein Ziel wäre höher, Verehrte Tochter! Du prahlst mit Paladin, du prahlst mit deinen Kräften. Glaubst du, das könnte die Antwort auf deine Gebete sein? Daß ich deinem Reiz erliege?«
Dieses Geschoß traf! Er sah sie zusammenzucken. Sie schloß die Augen und schluchzte vor Qual. Ihr schwarzes Haar fiel über ihre bloßen Schultern, die Haut ihres Rückens war weiß und weich und glatt...
Raistlin drehte sich um und verschwand. Er ging schnell und spürte seine Ruhe wiederkehren. Der Schmerz der Leidenschaft ließ nach, er konnte wieder klar denken.
Seine Augen erhaschten eine Bewegung, das Aufblitzen einer Rüstung. Sein Lächeln verzog sich zu einem höhnischen Grinsen. Wie er vorausgesagt hatte, lief Caramon durch den Wald und suchte Crysania. Nun, sie würde ihn willkommen heißen.
Raistlin erreichte sein Zelt und trat hinein. Das höhnische Grinsen kräuselte immer noch seine Lippen, aber als er sich an seine Schwäche erinnerte, an ihre sanften, warmen Lippen, verschwand das Grinsen. Zitternd brach er auf einem Stuhl zusammen und vergrub den Kopf in beide Hände.
Sein Lächeln kehrte eine halbe Stunde später zurück, als Caramon in sein Zelt stürzte. Das Gesicht des großen Mannes war zornrot, seine Augen weit aufgerissen, seine Hand lag auf dem Knauf seines Schwertes. »Ich sollte dich töten, du verdammter Bastard!« sagte er mit erstickter Stimme.
»Warum, mein Bruder?« fragte Raistlin und las in seinem Zauberbuch weiter. »Habe ich noch einen Lieblingskender von dir umgebracht?«
»Du weißt verdammt genau, warum!« knurrte Caramon mit einem Fluch, griff nach dem Zauberbuch und schlug es zu. Seine Finger brannten bei der Berührung des nachtblauen Einbandes, aber er nahm den Schmerz nicht wahr. »Ich fand Crysania im Wald, ihre Kleider zerrissen, und sie weinte! Diese Kratzer an deinem Gesicht...«
»Habe ich mir selbst zugefügt. Hat sie dir erzählt, was vorgefallen ist?« unterbrach ihn Raistlin.
»Ja, aber...«
»Hat sie dir erzählt, daß sie sich mir angeboten hat?«
»Das glaube ich nicht...«
»Und daß ich sie abgelehnt habe?« fuhr Raistlin kühl fort.
»Du arroganter Sohn einer...«
»In diesem Augenblick sitzt sie bestimmt weinend in ihrem Zelt und dankt den Göttern für meine Liebe zu ihr, die so stark ist, daß ich ihre Jungfräulichkeit wertschätze.« Raistlin gab ein höhnisches Lachen von sich.
»Ich glaube dir nicht!« sagte Caramon leise. Er packte die Roben seines Bruders und riß ihn aus seinem Stuhl.
»Entferne deine Hände, Bruder!« sagte Raistlin mit einem sanften Flüstern.
»Ich sehe dich in der Hölle!«
»Ich sagte, entferne deine Hände!« Ein blaues Licht blitzte auf, und es krachte und zischte. Caramon schrie vor Schmerz auf und löste seinen Griff, als ein lähmender Schock durch seinen Körper jagte.
»Ich habe dich gewarnt.« Raistlin richtete seine Roben und nahm wieder seinen Platz ein.
»Bei den Göttern, dieses Mal werde ich dich töten!« sagte Caramon mit zusammengepreßten Zähnen und zog sein Schwert.
»Dann tu es doch«, schrie Raistlin und sah von seinem Zauberbuch auf, das er wieder geöffnet hatte. »Bring es hinter dich! Diese ständigen Drohungen langweilen mich.« In seine Augen trat ein merkwürdiger Glanz. »Versuch es!« flüsterte er und starrte seinen Bruder an. »Versuch mich zu töten! Du wirst niemals nach Hause zurückkehren...«